Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Utopie und Wirklichkeit der Universität

- Abschiedsvorlesung Prof. Dr. Gerhard Vinnai -
gehalten an der Universität Bremen am 28. Juni 2005
Zu einer Utopie der Universität sollte gehören, dass an ihr lebendige intellektuelle Auseinandersetzungen stattfinden, dass Erkenntnisse durch Dialoge und Kontroversen in einer universitären Öffentlichkeit gesucht werden. Ich wünsche mir deshalb, dass die Gedanken, die ich hier vortrage, als Diskussionsgrundlage dienen, dass wir uns im Anschluss an meinen Vortrag über sie unterhalten und natürlich auch streiten können.

I

Üblicherweise gilt die Universität als ein Ort der Pflichten. An ihm soll diszipliniert Wissen produziert und fleißig studiert werden. Man soll während des Studiums das tun, was Hochschullehrer von einem verlangen, man soll sich auf Prüfungen vorbereiten, um später beruflichen Anforderungen gewachsen zu sein.

Wer so denkt, und das tun die Meisten, die an der Universität das Sagen haben, verleugnet, dass die Universität auch ein Ort des Wünschens ist. Vor allem noch nicht von der Universität verdorbene Studienanfänger wünschen, dort neue Ideen oder auch künstlerische Möglichkeiten kennen zu lernen, die es erlauben, einen anderen, freieren Zugang zur Welt und zu sich selbst zu finden. Nach der Trennung von der Schule oder auch der Loslösung von der Herkunftsfamilie kann man an der Universität neue, interessante Menschen kennen lernen. Mit diesen kann man nicht nur zusammen studieren, sondern sich zum Beispiel auch gemeinsam politisch engagieren oder gemeinsam Feste feiern. Die Studienzeit kann, trotz ihrer zunehmenden Verregelung, auch eine Zeit sein, in der man mit Lebensmöglichkeiten experimentieren kann. Wer das nicht versucht, dem bleiben nicht nur soziale, sondern auch intellektuelle Möglichkeiten verschlossen.

Die Universität ist, was Bildungspolitiker, Universitätsrektoren oder Professoren gerne vergessen, auch, und das nicht zuletzt, ein Liebes- und Heiratsmarkt. Alle Aktivitäten an der Universität haben etwas damit zu tun, dass Menschen anderen Menschen, die als potentielle Liebesobjekte gelten können, imponieren wollen. Ohne erotische Spannungen, passiert an der Universität auch intellektuell wenig Spannendes. Nur wenn es gelingt, eigene Wünsche, in Freundschaften oder Liebesbeziehungen zu anderen Universitätsangehörigen einzubringen, öffnen sich Horizonte des Lernens: Wer an der Universität isoliert bleibt - und das gilt leider für allzu Viele -, dem sind auch bestimmte Möglichkeiten der intellektuellen Entwicklung genommen. Dass die Suche nach Erkenntnis immer mit dem Eros verbunden ist, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Platon wusste das schon vor über 2000 Jahren, und später, vor hundert Jahren, hat auch Freud das wieder sichtbar gemacht. Dass man dies heute an der Universität nicht wissen will, zeigt, dass es dort nicht nur einen Fortschritt der Erkenntnis sondern auch einen der Realitätsverleugnung gibt.

Da Universitäten immer auch Orte des Wünschens waren und sind, gab es in der Geschichte der Universität immer auch Utopien der Universität. Man hat über Modelle eines idealen Lernens und Suchens nach Erkenntnis nachgedacht.

Ich will nun im Folgenden eine Utopie der Universität vorstellen, die die deutsche Universitätslandschaft nahezu zwei Jahrhunderte entscheidend mitbestimmt hat. Man kann sie als humboldtsches Universitätsideal oder neuhumanistisches Bindungsideal bezeichnen. Anschließend will ich dieses Ideal mit der Realität der gegenwärtigen Universität konfrontieren. Das soll dabei helfen, ihre Misere deutlicher zu machen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten führende deutsche Intellektuelle eine Utopie der Universität. Sie machten sich Gedanken darüber, wie an einer Universität idealerweise Wissen produziert und studiert werden sollte. Diese Intellektuellen, die man dem Deutschen Idealismus zurechnen kann, wollten mit ihrer Bildungsutopie Ideale der bürgerlichen Aufklärung zur Geltung bringen. Allgemeine Menschheitsideale, die das Bürgertum im Kampf gegen die Adelsherrschaft entwickelt hat, sollten mit Hilfe der Universität verwirklicht werden. Führende Vertreter des neuhumanistischen Bildungsideals waren, neben Wilhelm von Humboldt, dem das humboldtsche Universitätsideal seinen Namen verdankt und der damals preußischer Kultusminister war, Philosophen wie Fichte oder Schelling oder der Theologe, Pädagoge und Sprachwissenschaftler Schleiermacher. Auch Gedanken Goethes und Schillers flossen in dieses Bildungsideal ein.

Die Idee der Universität, die diese Gelehrten entwickelten, ist um die zwei Zentralbegriffe der bürgerlichen Aufklärung zentriert: den Begriff des autonomen Individuums und den Begriff der Weltbürgerlichkeit. Die Universität soll ein Ort sein, an dem autonome Individuen und Weltbürger hervorgebracht werden oder genauer gesagt, sich selbst hervorbringen. Was das bedeutet, soll im Folgenden stichwortartig angedeutet werden.

Ein autonomes Individuum soll ein Individuum sein, das Selbstbestimmung, Mündigkeit durch seinen Vernunftgebrauch erlangt. Bei Kant heißt es: "'Habe Mut, dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!' ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (1) Man soll, um sein Schicksal selbst bestimmen zu können, selbst denken und nicht andere für sich denken lassen. Der Kampf um Autonomie bedeutet zugleich den Kampf um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, um eine möglichst allseitige Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Jeder Mensch soll darüber hinaus als etwas Einmaliges, Besonderes, Unaustauschbares betrachtet werden. Er soll nicht bloß als Teil eines sozialen Kollektivs zählen. Bei Heinrich Heine heißt es in diesem Sinn: "Mit jedem Menschen der stirbt, geht eine Welt unter." Jedes Individuum stellt also in gewisser Weise eine Welt für sich dar, die als solche respektiert werden soll.

Das humanistische Bildungsideal setzt den Begriff des autonomen Individuums nicht absolut. Es will keinen bornierten Individualismus kultivieren, wie er für die Gegenwart typisch ist. Deshalb muss Individualität mit Weltbürgerlichkeit verknüpft werden. Individualität und Weltbürgerlichkeit müssen stets von neuem in ein spannungsreiches Verhältnis zueinander gesetzt werden, durch das sie sich wechselseitig befruchten können. Weltbürger sein, heißt, sich als Teil der Menschheit, als Teil eines herzustellenden Verbandes freier Menschen zu sehen und so zu handeln. Der französische Aufklärer Holbach formuliert im 18. Jahrhundert im Geist der Weltbürgerlichkeit:

"Die Menschheit ist ein Band, das unsichtbar den Bürger von Paris mit dem Bürger von Peking verbindet. Sie ist eine Übereinkunft, die gleichermaßen alle Mitglieder der großen Familie verpflichtet, in der die verschiedenen Völker der Erde nur die zerstreuten Individuen sind. Diese Übereinkunft ist das Unterpfand unserer Art; sie gibt jedem von uns das Recht, Gerechtigkeit, Mitleid und Wohltaten von jedem empfindenden Wesen zu verlangen gleich welchem Land, welcher Religion oder welchem Stande es entstammen mag. Krieg, Grausamkeit, Eroberungen, Intoleranz und Härte sind der Menschheit entgegengesetzt." (2)

Für Kant, den führenden Vertreter der Aufklärung in Deutschland, soll, in diesem Sinn, Erziehung immer in "weltbürgerlicher Absicht" erfolgen. Kants berühmter kategorischer Imperativ "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne", will nichts anderes, als in weltbürgerlicher Absicht das Handeln des Einzelnen an das Wohl aller Menschen binden. Der Reichtum eines Subjekts ist im Horizont der Weltbürgerlichkeit vom Reichtum seiner Beziehungen zur Welt abhängig. Bei Humboldt heißt es: "Soviel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln, ist im höheren Sinn des Wortes Leben". (3) Das Bemühen soll darauf zielen, sich möglichst umfassend an der Welt abzuarbeiten und sich dadurch als Subjekt zu entfalten. Zum Weltbürger werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinander zu setzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen.

Wie sollen nun diese großen Ideen, oder, wenn man so will, diese Träume praktisch umgesetzt werden? Wie soll die Universität autonome Individuen und zugleich Weltbürger hervorbringen? Für eine Universitätskonzeption, die solche Ziele anstrebt, soll der Begriff der akademischen Freiheit der Zentralbegriff sein. Für Fichte muss an einer Universität gelten, dass möglichst alles durch "Wechselwirkung aus Freiheit" (4) zustande kommt.

Akademische Freiheit heißt zunächst äußere Unabhängigkeit der Universität. Die Universität soll sich staatlichen Einflüssen entziehen. Bei Humboldt heißt es: sie soll sich "von allen Formen im Staate losmachen" (5). Der Staat soll allenfalls an der Ernennung der Professoren mitwirken und die Rechtsaufsicht über die Universitäten erhalten. Es soll aber keine inhaltliche Kontrolle über die Universität erlangen. Der Staat ist an Untertanen interessiert, er will Staatsdiener für seine Institutionen. Das widerspricht der Vorstellung vom autonomen Individuum. Sein nur auf ein bestimmtes Gebiet und dessen Bewohner bezogenes, beschränktes Interesse steht dem Ideal der Weltbürgerlichkeit entgegen.

Äußere Unabhängigkeit der Universität heißt auch Unabhängigkeit von äußeren wirtschaftlichen Zwängen. Humboldts Berliner Universitätskonzeption sah etwa vor, dass die Berliner Universität eigene Güter haben sollte, um sich selbst zu finanzieren und dadurch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern.

Die universitäre Bildung soll - ganz im Gegensatz zu dem, was heute proklamiert wird -, keine berufsbezogene und damit von wirtschaftlichen Interessen abhängige Ausbildung sein. Man sollte an der Universität nicht nur denken lernen, um damit später Geld zu verdienen. Man soll kein "Brotgelehrter" werden, der nur im Horizont seiner zukünftigen Auftraggeber denken lernt. Wer nur von Berufs wegen denkt und nicht, weil Denken zum Lebensbedürfnis geworden ist, dessen Intellektualität muss verkümmern.

Man kann Berufe als Gefängnisse betrachten, in die sich Menschen ein Leben lang einsperren lassen wollen oder müssen. Sie sind ein Teil von Institutionen, die Max Weber später als "Gehäuse der Hörigkeit" bezeichnet hat. Das Bestreben, individuelle Autonomie zu erlangen, lässt sich meist kaum mit beruflichen Pflichten verknüpfen. Berufe verlangen spezialisierte Gewissenhaftigkeit bei der Erfüllung von Teilfunktionen in Betrieben und Einrichtungen. Aber diese Gewissenhaftigkeit verbindet sich üblicherweise mit Verantwortungslosigkeit für das gesellschaftliche Ganze. Mit der Orientierung des Studiums an späteren beruflichen Zwängen lässt sich also meist weder das Bestreben, individuelle Autonomie noch das, Weltbürgerlichkeit hervorzubringen, verknüpfen. Wenn schon nicht im späteren Berufsleben, so sollen wenigstens an der Universität diese Zielvorstellungen im Interesse der individuellen Entfaltung des gesellschaftlichen Fortschritts Geltung erlangen.

Akademische Freiheit verlangt nicht nur die äußere Unabhängigkeit der Universität von staatlichen und wirtschaftlichen Zwängen, sie verlangt vor allem auch eine spezifische innere Organisation der Universität.

Die Universität soll kein Ort sein, an dem Studierende lernen, sich vorgegebenen Anforderungen anzupassen, sie soll keine Schule des "realexistierenden Opportunismus" sein. Bildung soll vielmehr als Prozess der Selbsterzeugung freier Menschen verstanden werden.

Die wissenschaftliche Bildung soll deshalb zugleich Charakterbildung sein. Der Philosoph Fichte äußert 1794 in einer Vorlesung über die Pflichten des Gelehrten:

"Aber alle Geisteskultur ist nichts, und hilft nichts, ohne Charakterbildung; und ich erinnere abermals, was ich schon mehrmals erinnert habe, daß man irrt, wenn man in einer Akademie bloß eine Schule der Wißenschaften zu erbliken glaubt. Sie soll zugleich seyn eine Schule des Handelns[.] Bilden Sie dahero zuförderst Ihren Charakter zum festen entschloßnen Halten an Wahrheit, und an Recht. Thun Sie nichts gegen Ihre Ueberzeugung; suchen Sie aber beständig Ihren Geist der beßern Ueberzeugung offen zu erhalten. Unterlaßen Sie alles, wodurch Sie auf irgend eine Art abhängig, wodurch Sie zum Instrument eines fremden Willens werden oder wodurch sie gehindert werden, frei jedem unter die Augen zu treten. Erhalten Sie sich diese Freiheit, die Ihnen die Gesetze gebe." (6)

Bildung soll, wie es bei Schelling heißt, "alle Seiten der menschlichen Natur berühren". (7) Die Erziehung zu vernünftigem Denken verlangt, wie besonders Friedrich Schiller als Professor in Jena deutlich gemacht hat, zugleich die Entfaltung der sinnlichen Vermögen der Menschen. Bei ihm heißt es: "Es gibt keinen anderen Weg den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht". (8) Ästhetische Bildung heißt Bildung des Leibes und der Gefühle, Bildung des Sehens, des Hörens oder des Berührens.

Jedes Denken ist an bestimmte Lebenspraxis gebunden. Wie Menschen leben und arbeiten, legt ihre intellektuelle Möglichkeiten fest. Selbständiges Denken hat deshalb eine selbständige Lebenspraxis zur Voraussetzung. Für die Universität bedeutet das, dass Studierende nur lernen können, selbstständig zu denken, wenn sie zugleich lernen können, selbständig ihr Studium zu organisieren. Hochschullehrer sollen Studierenden nicht in erster Linie Ordnungen vorgeben, sie sollen ihnen vielmehr vor allem dabei helfen, selbständig solche zu finden.

Ein freies Denken ist zugleich an eine freie Gestaltung von Beziehungen gebunden. Sich bilden heißt zu lernen, intensive Arbeitsbeziehungen selbständig herstellen zu können. Vor allem Freundschaften, die aus freien Stücken eingegangen werden, gelten dabei als Basis eines produktiven Studierens.

Wo Studierende lernen sollen, unkonventionell zu denken, wo sie ihre Intellektualität von bestehenden sozialen Zwängen lösen sollen, müssen sie zugleich auch eine nicht-konventionelle Lebenspraxis erfahren. Wer originell denken will, muss zugleich auf originelle Art sein Leben gestalten. Das verlangt das Experimentieren mit Lebensformen, mit Verhaltensweisen, mit der Kleidung oder der Sprache Bei Schleiermacher heißt es hierzu:

"Genau genommen möchte das Wesen dieser Freiheit nur darin bestehen, daß die Studenten unter sich von fast alle dem sich frei halten, was sonst in der Gesellschaft Konvenienz ist, daß sie sich an die Sitten nicht binden, denen hernach jeder in dem Stande, welchen er wählet, sich fügen muß, sondern daß sich auf der Universität die verschiedensten Sitten und Lebensweisen auf das freieste entfalten können. Auf der Straße leben und wohnen auf antike Art; sie mit Musik und Gesang, oft ziemlich rohem, erfüllen, wie die Südländer; schlemmen wie der Reichste, so lange es gehen kann, oder einer Menge von gewohnten Bequemlichkeiten bis zu zynische Unordnung entsagen wie der Ärmste, ohne eines von beiden zu sein; die Kleidung aufs sorgloseste vernachlässigen oder mit zierkünstlerischer Aufmerksamkeit eigentümlich daran Schnörkeln; eigne Sprachbildung, eigene geräuschvolle Arten, Beifall oder Tadel zu äußern, und ein vorzüglich auf diese ungestörte Mannigfaltigkeit sich beziehender gewissermaßen öffentlich eingestandener und gestatteter Gemeingeist, dies ist unstreitig das Wesen der studentischen Freiheit und alles, was sich sonst noch daran hängt, nur zufällig." (9)

Für Schleiermacher soll an der Universität auch gelten, dass die Gegenwart nicht der Zukunft geopfert werden soll. An heutige Universitäten geht man davon aus, dass ein Studium auf eine zukünftige Berufspraxis ausgerichtet sein soll. Das gegenwärtige Tun soll also erst in der Zukunft Erfüllung finden, die Gegenwart soll Ihr geopfert werden. Schleiermacher hingegen betont, dass zur Existenzweise der Studierenden auch eine erfüllte Gegenwart gehören sollte. Nur diese sorgt dafür, dass sich das ungelebte Leben nicht aufstaut und die Heranwachsenden so verhärtet, dass es auch ihre Zukunft verdirbt. Wer nie richtig jung sein durfte, kann später auch kein reifer Erwachsener sein.

Weltbürgerlichkeit, das Interesse an den großen Menschheitsfragen, das sich an der Universität in Verbindung mit der individuellen Autonomie entwickeln soll, erfordert ein offenes Denken, das an umfassenden Zusammenhängen interessiert ist. Deshalb muss universitäre Bildung gegen das Fachidiotische, also gegen eine beschränkende wissenschaftliche Arbeitsteilung gerichtet sein. Die Universität soll deshalb ein Ort des permanenten öffentlichen Austausches zwischen allen am Wissenschaftsprozess Beteiligten sein. Die Integration ihres Wissens soll mit Hilfe der Philosophie zustande kommen. Diese soll eine Art Grundwissenschaft darstellen, die es den Angehörigen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen erlaubt, einen Austausch ihrer Erkenntnisse zustande zu bringen und sie miteinander zu verknüpfen.

Um die Entfaltung von individueller Autonomie und Weltbürgerlichkeit zu ermöglichen, muss die Universität vor allem offene Räume für permanente intellektuelle und soziale Suchbewegungen zur Verfügung stellen. Diese offenen Räume müssen es nach Humboldt erlauben, "das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen" (10). Ohne offene Räume des Suchens gibt es für Humboldt keine Universität, die diesen Namen verdient.

II

Ich habe hier kurz auf zentrale Gedanken des neuhumanistischen Universitätsideals hingewiesen. Dieses Ideal hat viel Kritik gefunden, die mitunter nicht unberechtigt ist. Man kann diesem Universitätsideal vorwerfen, dass es für eine Elite gedacht ist, die sich von wirtschaftlichen Zwängen aufgrund einer gesicherten materiellen Basis lösen kann. Aber ist die Gesellschaft nicht heute so reich, dass sie es sich leisten kann, allen jungen Menschen wenigstens für einige Zeit eine Entlastung von ökonomischen Zwängen zu gewähren?

Das humboldtsche Ideal ist auf eine vorindustrielle Gesellschaft mit einem begrenzten Wissen bezogen. Die Explosion des Wissens, die eine moderne industrielle Gesellschaft mit sich bringt, macht aber wohl ausgeprägtere Formen der Spezialisierung unvermeidbar. Die Integration des Wissens, wie sie von diesem Ideal gewünscht wird, wird dadurch sicherlich sehr erschwert.

Wo die Distanz zum Staat, zur Ökonomie, zum Beruf besonders entschieden gefordert wird, besteht die Gefahr der Weltflucht, zum Rückzug in den Elfenbeinturm. Außerdem ist es illusionär, eine Universität ganz von ökonomischen und beruflichen Zwängen und Interessen befreien zu wollen. Sie sollte wohl eher immer darum kämpfen, deren Einfluss zu beschränken und sich auf kritische Art zu ihnen in Beziehung setzen.

Die feministische Kritik hat zurecht betont, dass dieses Ideal mit der Konzeption einer reinen Männeruniversität verknüpft ist. Wie eine Universität aussieht, die die Geschlechterdifferenz produktiv zur Geltung bringt, bleibt bis heute eine offene Frage.

In dieses Universitätsideal geht eine ganz bestimmte Vorstellung vom Wesen und von der Bestimmung des Menschen ein. Es setzt die Fähigkeit des Menschen zur Freiheit voraus, zur Fähigkeit, sich durch vernünftiges Denken selbst zu bestimmen. Aber unter welchen sozialen Voraussetzungen kann ein solches Vermögen hergestellt werden? Und hat die geforderte Fähigkeit, Macht mit Hilfe des Verstandes über sich selber zu erlangen, nicht auch eine Verinnerlichung von Kontrollen und von Disziplinforderungen zur Vorraussetzung, die Freiheiten einschränken können? Gehört zur menschlichen Freiheit nicht auch die Freiheit, verrückt oder faul sein zu dürfen, solange das anderen nicht schadet? Man kann mit Hilfe von Michel Foucaults Machttheorie oder der kritischen Theorie Adornos aufzeigen, dass auch das Ideal des autonomen Individuums in gesellschaftliche Machtwirkungen verstrickt ist und solche ausübt. Und wer mit der Psychoanalyse die Macht des Unbewussten erkannt hat, muss wohl über die menschliche Freiheit neu und anders nachdenken.

Eine Kritik, wie die angedeutete, hat ihr Recht. Trotzdem hört aber nach meiner Ansicht eine Universität auf, eine Universität zu sein, wenn in ihr nicht Vorstellungen fortwirken, die mit dem humanistischen Ideal verbunden sind. Selbstverständlich müssen sie dabei, auf die Gegenwart bezogen, weiter entwickelt werden. Wo aber eine Universität, wie die gegenwärtige, Räume und Freiheiten für ein offnes, experimentierendes Suchen immer mehr zum Verschwinden bringt und immer mehr ökonomischen und politischen Zwängen unterworfen wird, ist sie, nach meiner Meinung, keine Einrichtung mehr, die den Namen Universität verdient!

Das humboldtsche Universitätsideal bestimmte lange Zeit die deutsche Universitätsgeschichte entscheidend mit, auch wenn es niemals praktisch zur Gänze realisiert wurde oder realisierbar ist. Große intellektuelle Leistungen der deutschen Wissenschaft sind mit ihm verbunden. Hegel, Marx, Nietzsche, Freud oder Adorno hätten ihre intellektuellen Fähigkeiten ohne den Einfluss dieses Ideals nicht entwickeln können. Nicht nur Philosophen und Geisteswissenschaftler haben sich an diesem Ideal orientiert, auch ein Physiker wie Albert Einstein, der dieses Jahr allenthalben gerühmt wird, war ein Anhänger dieses Ideals. Es ist kein Zufall, dass man das gegenwärtig kaum zur Kenntnis nehmen will. Einstein äußerte nach seiner Emigration in den Vereinigten Staaten:

"Es ist nicht genug, den Menschen ein Spezialfach zu lehren. Dadurch wird er zwar zu einer Art benutzbarer Maschine, aber nicht zu einer vollwertigen Persönlichkeit. Es kommt darauf an, daß er ein lebendiges Gefühl dafür bekommt, was zu erstreben wert ist. Er muß einen lebendigen Sinn dafür bekommen, was schön und was moralisch gut ist. Sonst gleicht er mit seiner spezialisierten Fachkenntnis mehr einem wohlabgerichteten Hund als einem harmonisch entwickelten Geschöpf. Er muß die Motive der Menschen, deren Illusionen, deren Leid verstehen lernen, um eine richtige Einstellung zu den einzelnen Mitmenschen und zur Gemeinschaft zu erwerben. Diese wertvollen Dinge werden der jungen Generation durch den persönlichen Kontakt mit den Lehrenden, nicht - oder wenigstens nicht in der Hauptsache - durch Textbücher vermittelt. Dies ist es, was Kultur in erster Linie ausmacht und erhält. Diese habe ich im Auge, wenn ich die 'humanities' als wichtig empfehle, nicht einfach trockenes Fachwissen auf geschichtlichem oder philosophischem Gebiet. Überbetonung des kompetetiven Systems und frühzeitiges Spezialisieren unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Nützlichkeit töten den Geist, von dem alles kulturelle Leben und damit schließlich auch die Blüte der Spezialwissenschaften abhängig ist.
Zum Wesen einer wertvollen Erziehung gehört es ferner, daß das selbständige kritische Denken im jungen Menschen entwickelt wird, eine Entwicklung, die weitgehend durch Überbürdung mit Stoff gefährdet wird (Punktsystem). Überbürdung führt notwendig zu Oberflächlichkeit und Kulturlosigkeit. Das Lehren soll so sein, daß das Dargebotene als wertvolles Geschenk und nicht als saure Pflicht empfunden wird." (11)

III

Das humanistische Ideal war besonders wirksam, solange es das Bürgertum im Kampf gegen die Adelsherrschaft vertrat und sich dabei zugleich als Vertreter allgemeiner Menschheitsinteressen sah. Es unterstütze dieses Ideal vor allem, bevor es die politische Macht erlangte. Danach suchte es die Universität in erster Linie für seine politischen Interessen zu funktionalisieren und vor allen Dingen seinen ökonomischer Interessen zu unterwerfen. Das bestimmt die Universitätsentwicklung auch in der Gegenwart.

Der Philosoph Fichte formulierte 1794 in einer Vorlesung über die Pflichten des Gelehrten:

"Noch ist es nicht lange her, daß der Studirende sich betrachtete, als bloß eine andere, und höhere Klaße von Handwerker, daß seine Absicht bloß darauf ging, sich diejenigen Fertigkeiten zu erwerben, die er bedürfen würde, um einst dies, oder jenes Amt so zu verwalten, daß er nicht davon vertrieben werde, und dadurch sein Brod hätte. Aengstlich sah er sich um nach dem, was andere vor ihm gesagt, und wie sie gethan hatten; ängstlich bemühte er sich in seiner Sphäre nichts anderes zu sagen, und es auf keine andere Weise zu sagen, als sie es gesagt hatten. So erfüllte er zu seiner Zeit seinen Platz, wie das Rad in der Maschine den seinigen[, ] und mit dem gleichen Werthe, und Verdienste; und die Maschine ging gerade so fort, wie sie immer gegangen war[.]" (12)

Fichte wollte eine endlich überwundene Vergangenheit beschreiben und beschreibt in einer altertümlichen Sprach eher unsere Gegenwart und Zukunft.

Anstatt eines Raumes für offene intellektuelle und soziale Suchbewegungen, wie ihn das humanistische Ideal fordert, wird die Universität heute, unter dem wachsenden Einfluss staatlicher Kontrolle und einer immer totalitärer werdenden Ökonomisierung der Gesellschaft, zum bürokratisch organisierten Großbetrieb: sie zeigt eine Tendenz zur Wissens- und Lernmaschine. Die äußere Unabhängigkeit der Universitäten, die schon immer begrenzt war, wird immer mehr zerstört, aus der inneren Organisation der Universität wird die akademische Freiheit vertrieben.

Die Universität wird zunehmend für staatliche Interessen funktionalisiert. Sie soll dabei helfen, staatliches Machthandeln zu rationalisieren und die Qualifikation von Staatsbediensteten, wie etwa Lehrern, auf vom Staat festlegte Art zu organisieren.

Für die gegenwärtige Universität ist vor allem ihre immer ungehemmtere kapitalistische Ökonomisierung kennzeichnend. Die Universität wird zum Dienstleistungsbetrieb, der Wissen und Kompetenzen als Ware an private oder staatliche Auftraggeber verkaufen soll.

Zugleich wird die Universität zunehmend zur Berufsfachschule, an der eine bloß berufsqualifizierende Ausbildung erfolgen. soll. Eine Ausbildung für vorhandene Berufen bedeutet aber letztlich nichts anderes, als eine Qualifizierung von Arbeitskräften für das, was auf dem Markt nachgefragt wird. Die Interessen von potentiellen Käufern zukünftiger akademischer Arbeitskräfte bestimmen damit das, was an der Universität geschieht.

Indem die Universität zum Dienstleistungsbetrieb und zur Berufsfachschule wird, gleichen sich die Strukturen der Universität immer mehr den Strukturen der Institutionen an, die Abnehmer von Wissen, Kenntnissen und Arbeitskräften sind, die an der Universität erzeugt werden. Die Struktur der Universität ähnelt so immer mehr der Struktur staatlicher Herrschaftsapparate und der Struktur privatwirtschaftlicher Unternehmen.

Das bedeutet z.B., dass die Universität zu einem bürokratisch organisierten Großenbetrieb wird, der von einem Management an der Spitze gelenkt wird. In dieser hierarchischen Organisation ist die Macht, wie bei Wirtschaftsunternehmen, an der Spitze konzentriert. Normale Professoren haben wenig zu sagen, Studierende fast gar nichts. Die Arbeits- und Beziehungsformen werden in dieser Institution zunehmend durch bürokratische Verordnung in ihrer Qualität, in ihrer zeitlichen und räumlichen Gestaltung betriebskonform verregelt. Da man dabei allzu Vieles zu verregeln sucht, was sinnvoller Weise der Selbstorganisation überlassen bliebe, bedeutet diese Art der Organisation zugleich eine permanente Organisation des Chaos, dessen Bändigung dann angeblich noch mehr Verplanung fordert.

Mit der Verwandlung der Universität in einen Großbetrieb zur Erzeugung von Arbeitskräften und ökonomisch verwertbarem Wissen verwandelt sich auch der Charakter der Hochschullehrer. Hochschullehrer sollen nicht mehr in erster Linie Intellektuelle sein, die sich mit sich und der Welt sensibel und kritisch auseinandersetzen. Sie sollen immer mehr vor allem Wissenschaftsmanager sein, eine Art Abteilungsleiter, die in der Lage sind, Geld zu beschaffen und den Wissens- und Lehrbetrieb zu organisieren. Nicht zufällig werden jetzt selbst in der Lehrerbildung alle zukünftigen Bremer Hochschullehrer vom Wirtschaftsberatungsunternehmen Kienbaum im Hinblick auf ihre Managementqualitäten getestet.

Unter solchen Strukturen können Studierende kaum noch lernen, als selbsttätige Subjekte zu denken und zu handeln. Sie werden allenfalls zur flexiblen Anpassung an vorgegebene Realitäten befähigt In ihrer Ausbildung werden sie dem unterworfen, was der lateinamerikanische Pädagoge Paolo Freire als "Bankiersmethode" bezeichnet hat. Nicht zufällig hält ja jetzt auch die Banksprache an der Universität Einzug (Vergabe von Credit-Points). Die Studierenden sollen zu studentischen Anlageobjekten werden, in die Hochschullehrer nach vorgegebenen Regeln in einem bestimmten Zeitraum ihr Wissen investieren. Danach soll durch regelmäßige Prüfung getestet werden, ob das Wissen in die Anlageobjekte gut investiert wurde. Das Studieren soll auf bestimmte, vorher von der Universität oder überregionalen Gremien festgelegte Lernziele ausgerichtet werden: Die Qualifikation von akademischen Arbeitskräften soll also nach festgelegten Plänen, ähnlich wie die Produktionsprozesse in der Industrie, organisiert werden. Das aber ist das Gegenteil von dem, was man einmal unter Bildung verstand. Für diese gilt, was der Philosoph Schelling vor 200 Jahren formulierte:

"Alle Regeln, die man dem Studieren vorschreiben könnte, fassen sich in der einen zusammen: Lerne nur, um selbst zu schaffen. Nur durch dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtet Maschine." (13)

IV

Die angedeuteten Entwicklungstendenzen der Universität bestimmen auch das Schicksal der Psychoanalyse an ihr, die ich bisher in der Erziehungswissenschaft vertreten habe und die mit meinem Abgang aus ihr verschwindet. Der geheime Lehrplan der Universität zielt heute vor allen Dingen auf Menschen, die, als leidlich klug eingerichtete informationsverarbeitende Maschinen, an der Universität gelernt haben, sich an vorgegebene Verhältnisse anzupassen. Sie hat wenig Interesse an lebendigen, selbsttätigen Subjekten, die zu Suchbewegungen in offenen Räumen fähig sind. Deshalb muss an ihr die Psychoanalyse als überflüssiger Störfaktor erscheinen. Man kann gegen die Psychoanalyse und ihre Vertreter sicherlich manches Kritische einwenden. Aber sie hat das Verdienst, das gründliche Nachdenken über das eigene Selbst und dessen Schattenseiten zu fördern. Sie kann zeigen, wie äußere Unfreiheit sich in innere Unfreiheit verwandelt und wie innere Unfreiheit tendenziell aufgebrochen werden kann. Ihr Ziel, eine kritische Selbstreflexion zu befördern, die der Subjektwerdung dienen kann, entspricht einem humanistischen Bildungsideal, von dem sich die Universität verabschieden will. Vor allem deshalb gilt sie jetzt in der Wissenschaft als veraltet.

Die Verbannung der Psychoanalyse aus der Universität hat noch andere Gründe. Die gegenwärtigen Rationalisierungsmaßnahmen an der Universität werden keineswegs nur von außen, durch machtvolle politische und ökonomische Interessen und die unvermeidbare Anpassung an diese durchgesetzt. Sie sind auch auf ein universitäres Potential an menschlicher Unreife und Verstörtheit angewiesen, das in eine wildgewordene Planungswut eingeht oder verhindert, dass sich Hochschulangehörige gegen ihre Zumutungen zur Wehr setzen. In allen Studiengängen, die ich an dieser Universität erlebt habe, gab es leidenschaftliche Käfigbauer - dies vor allem unter denen, die nicht in der Lage waren, offenere Räume intellektuell zu füllen oder die sich Studierende mit Hilfe von Studien- und Prüfungsordnungen zutreiben wollten, weil ihnen das Vertrauen in die Attraktivität ihrer Lehre fehlte.

Wer gelernt hat, mit Hilfe der Psychoanalyse auf unbewusste Dimensionen menschlichen Verhaltens zu achten, kann leicht feststellen, dass das, was sich als rational begründete Reform aufspielt, von irrationalen seelischen Unterströmungen abhängig ist. Ein übersteigerter Drang, zu reglementieren oder sich reglementieren zu lassen, lebt insgeheim von einer tiefsitzenden Angst vor offenen Strukturen, in der ein Mangel an psychischer innerer Ordnung zum Ausdruck kommt. Dieser Drang zum Reglementieren wird von einem heimlichen Hass von Hochschullehrern auf Studierende gespeist, die sich deren Größenphantasien nicht fügen wollen. In diesen Drang geht der Neid von Planern und Beamten in den Bildungsbehörden auf die Privilegien und Freiheiten von Hochschullehrern ein. Männer, für die die Geschlechterdifferenz zur Bedrohung wird, zeigen eine Tendenz, Abweichungen aller Art als Bedrohung zu erfahren. Frauen, die Schwierigkeiten haben, die Geschlechterdifferenz so zur Geltung zu bringen, dass sich an der Männeruniversität etwas öffnen kann, zeigen die Neigung, sich Studierenden gegenüber wie übergriffige kontrollwütige Mütter zu verhalten. Infantilisierte Studierende, die Angst vor der Freiheit haben, rufen nach autoritären Festlegungen ihres Studienverlaufs, was autoritär strukturierte Hochschullehrer zu erfreuen vermag, die anderen gerne vorschreiben, was sie tun haben, anstatt ihnen aus infantilen Abhängigkeiten herauszuhelfen.

Mit der Ausrichtung der Universität an ökonomisch-technischen Kriterien der Effizienz setzt sich eine halbierte Vernunft durch. Diese halbierte Vernunft aber hat als Kehrseite eine Lebensfeindlichkeit und Verrücktheit, die zusammen mit ihr institutionalisiert wird. Die Subjekte, die an der Universität um ihre Entfaltung betrogen werden, rächen sich dadurch, dass sie sich auf boshafte Art narzisstisch aufblähen und versuchen, sich in Abdrücken zu vervielfältigen oder aber indem sie versuchen, vor den Anforderungen einer Universität die Flucht zu ergreifen. Nicht zuletzt weil man das vor sich selbst und anderen verleugnen möchte, muss ein psychoanalytisch geschultes, kritisches Denken, das dies sichtbar machen könnte, zum Schweigen gebracht werden.

V

Was ich über die Entwicklung der Universität ausgeführt habe, klingt gewiss nicht optimistisch. Wer noch halbwegs bei Verstand ist, hat heute einigen Anlass zu pessimistischer Verdüsterung. Das kritische Denken hat aber nicht nur auf schlimme Entwicklungstendenzen hinzuweisen, es hat auch die Aufgabe, Potentiale auszumachen, die etwas Anderes, Freieres, möglich werden lassen könnten. Ich will deshalb zum Schluss mit Hilfe der Psychoanalyse auf eine in den Subjekten wirkende Macht hinweisen, die potentiell die Kraft zum Besseren enthält. Ich habe auf diese Macht schon am Anfang meines Vortrages hingewiesen: nämlich auf die Macht des Wünschens. An der Universität wirken nicht nur institutionelle Strukturen, sondern auch Wünsche von Hochschulangehörigen, die gegen sie gerichtet sind. Von Adorno stammt der Satz: "Der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt." (14) Das bedeutet umgekehrt zugleich, dass kritisches Denken und wohlverstandene Interessen nur dann mehr Einfluss erlangen können, wenn sie sich neu und anders mit der Macht des Wünschens zu verbinden wissen. Was das bedeutet, kann ich hier nur andeuten: es wird Gegenstand eines Forschungsprojekts sein, an dem ich, zusammen mit Anderen, nach dem Ende meiner Dienstzeit arbeiten werde.

Es ist eine zentrale Einsicht von Freuds Psychoanalyse, dass der Mensch primär als wünschendes Wesen begriffen werden muss. Alles unser Denken und Tun wird entscheidend vom Wünschen mit bestimmt. Wir haben nicht die Macht, der Macht unserer Wünsche zu entkommen! In der Traumdeutung hat Freud aufgezeigt, dass Träume Wunscherfüllungen sind, dass also das Seelenleben während des Schlafes vom Wunsch bestimmt ist. In seiner Neurosenlehre hat er darauf hingewiesen, dass sich in den Symptomen seelischer Erkrankungen nicht nur vergangene traumatische Erfahrungen niederschlagen, sondern dass diese in den Symptomen immer als vom Wunsch korrigierte wiederkehren In der Welt der Religion sieht Freud ein illusionäres Wünschen am Werk. Die Kunst ist ihm Ausdruck einer Wunschwelt, die sich der Realität entziehen will. Tagträume, die uns Entlastung von der Realität gewähren, leben nach Freud von egoistischen Wünschen Auch wo wir, um unser Überleben zu sichern, dem Realitätsprinzip gehorchen, sind wir keineswegs der Sphäre des Wünschens entkommen Unser Wünschen hat sich dort allenfalls so gewandelt, dass es unter Berücksichtigung der Realität Erfüllung sucht. Die Macht des Wünschens hängt für Freud damit zusammen, dass das Unbewusste eine Art Wunschmaschine darstellt. Es ist in gewisser Weise so blöd, dass es nichts anderes kann als wünschen, weil es Wunsch und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermag.

Unsere Wünsche können sich nie ganz mit der bestehenden Realität abfinden, sie üben damit sozusagen immer eine Art von Kritik an ihr. In der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit wurzelt das Leiden an der Realität. Dieses Leiden kann fatale aber auch befreiende Konsequenzen zeitigen.

Das Leiden am Ungenügen der Realität kann zur Flucht in die Neurose führen, wo verbissen auf der Erfüllung von Kinderwünschen beharrt wird. Es kann an die Versprechungen der Werbung fesseln, die mit jeder Warengattung immer erneut die Befriedigung aller Wünsche verspricht. Es kann dazu drängten, Realitäten zu verleugnen, die dem Wunsch widersprechen, und kann so auf fatale Art individuelle und gesellschaftliche Katastrophen begünstigen.

Aber die Dynamik des Wünschens kann unter günstigen Umständen auch auf ein gereiftes Ich treffen, das sie zu nutzen versteht. Sie kann sich auch mit sozialen Interessen verbinden, die auf eine freiere, gerechtere und solidarischere Gesellschaft drängen. Die unerfüllten Wünsche liefern, wenn sie mit entsprechenden Strukturen des Ichs und gelingenden sozialen Beziehungen verbunden werden können, einen Motor für intellektuelle und ästhetische Kreativität, für die Suche nach sozialen Veränderungen, für die Weigerung, menschenfeindliche Realitäten zu akzeptieren. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass sich Wunsch und Wirklichkeit, ebenso wie Wünschen und Vernunft, irgendwann einmal so zu einander in Beziehung setzen lassen, dass das Wünschen dazu beitragen kann, die Gehäuse der Hörigkeit zu sprengen, in die wir heute eingesperrt sind.

Ich komme zum Schluss: Ich wünsche Ihnen, Euch und auch mir, dass unsere Wünsche uns nicht in erster Linie unglücklich machen, weil sie nicht mit der Realität zu vereinbaren sind. Ich wünsche uns vielmehr, dass die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit - als eine produktive Spannung - einen Drang zur Veränderung und zur immer erneuten Suche nach einem besseren Leben wach hält, ohne die der Tod, der diese Spannung aufhebt, schon zu unseren Lebzeiten seine Macht über uns erlangt.


Anmerkungen

  1. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. Zitiert nach: Werke. Hrsg.: W. Weischedel. Frankfurt 1977, Bd. XI, S. 53
  2. Holbach, Systeme social. Bd. 1, zitiert nach G. Mensching, Einleitung zur Enzyklopädie. Essay, Frankfurt/M. 1989, S. 140
  3. J.G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95. Hamburg 1971, S. 12
  4. J.G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten. a.a.O., S. 16
  5. W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Stuttgart 1964, S. 256
  6. J.G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten. a.a.O., S. 12
  7. F.W.J. v. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. Berlin 1802, S. 446
  8. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1795, Reclam Stuttgart 1965, S. 93
  9. F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. 1808, S. 128 f.
  10. W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, a.a.O., S. 257
  11. A. Einstein, Mein Weltbild. Frankfurt/M. 1955, S. 23 f.
  12. J.W. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten. a.a.O., S. 103
  13. F.W.J. v. Schelling, a.a.O., S. 475
  14. Theodor W. Adorno: Minima Moralia Frankfurt 1962, S. 158