Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Das innere Ausland - Thesen zur Sozialpsychologie der Fremdenfeindlichkeit

Erschienen in der Tageszeitung ’TAZ’ am 27.11.1991

1. Das Verhältnis zum Fremden außerhalb von uns ist abhängig von dem, was uns an uns selbst fremd ist Das "innere Ausland" (Freud) bestimmt entschei­dend, wie Ausländer erfahren werden. Die eigene Psyche ist immer nur teil­weise bewußt. Je schwächer das Ich ist, desto mehr gerät sie unter das Diktat unbewußter Prozesse. Was gesellschaftlich tabuisiert ist oder das eigene Selbstbild zu sehr bedroht, kann abgespalten oder verdrängt werden. Dies dem Bewußtsein Entzogene kann wiederkehren, indem es auf Fremde projiziert wird, indem es anderen unterschoben wird. Der Ausländer kann zum Reprä­sentanten abgewehrter Triebregungen werden, sein Bild kann von dem entstellt sein, was man insgeheim ist oder begehrt. Das Fremde, das als unheimlich erfahren wird, kann durchaus heimlich vertraut sein. Die verdrängte eigene Ag­gressivität kann im Bild des bedrohlichen Fremden wiederkehren; wo geltende Regeln nur widerwillig akzeptiert werden, kann er als Rechtsbrecher erschei­nen. Wo man viel arbeitet, erscheinen Ausländer leicht als faul, wo man den Mund halten muß, gelten sie als laut, wo das sexuelle Begehren nicht gelebt werden kann, erfährt man ihre Triebhaftigkeit als bedrohlich. Der Ausländer muß nicht nur negative Regungen repräsentieren, mit ihm kann auch der Wunsch nach einem besseren Leben verbunden sein. Er kann für die Sehn­sucht stehen, der eigenen Enge durch den Drang in die Ferne zu entrinnen, er kann die Lebendigkeit repräsentieren, die man sich selbst austreiben mußte, man kann ihm enge soziale Beziehungen zuschreiben, die man selbst nicht hat. Die Ablehnung des Fremden resultiert dann auch aus der Angst vor Wün­schen nach einem anderen Leben, die in den bestehenden sozialen Käfigen und inneren psychischen Gefängnissen als schmerzlich erfahren werden müs­sen. Für mehr Verständnis für Ausländer reicht allein die Konfrontation mit ihrer Realität nicht aus; nur ein anderes Verhältnis zum eigenen Begehren, nur ein freieres Wünschen erlaubt es, sie als soziale Bereicherung zu erfahren. Erst wenn das Fremde einen erotischen Reiz erlangen kann, zieht es weniger Angst und Aggressivität auf sich.

2. Lebensgeschichtliche Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Wie die Ablösung vom Vertrauten und die Hinwendung zum Fremden gelingt, ist entscheidend für das Gelingen oder Mißlingen menschlicher Reifungsprozesse. Das "fremdelnde" Kleinkind fürch­tet sich vor allen Menschen, die nicht seine Mutter sind; das Kind, das in die Schule eintritt, hat Angst vor der Vielzahl fremder Kinder; die Pubertät des Ju­gendlichen ist mit der Angst vor den fremdartigen Mitgliedern des anderen Ge­schlechts verbunden. Wie frühere Hinwendungen zum Fremden verlaufen sind, hat entscheidenden Einfluß darauf, wie in der Gegenwart das Fremde erfahren wird. Wo notwendige Trennungsprozesse nicht gelungen sind und fragwürdig gewordene frühere Bindungen bewußt oder unbewußt fortbestehen, muß die Erfahrung des Fremden besonders ängstigend ausfallen. Mit der Fremden­feindlichkeit ist üblicherweise ein Nationalismus verbunden, von dem schon Wilhelm Reich in den 30er Jahren aufgezeigt hat, daß er mit ungelösten infan­tilen Familienbindungen verknüpft ist. "Die Vorstellungen von Heimat und Na­tion sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes im Bürgertum, wie die Familie seine .Nation im Kleinen ist", heißt es in der "Massenpsychologie des Faschis­mus". Das simplifizierende, emotional aufgeladene nationalistische Weltbild nimmt die Komplexität ökonomischer und sozialer Prozesse nicht zur Kenntnis. Es sucht statt dessen im nationalen Führer die starke väterliche Macht, die zusammen mit ihren treu ergebenen Söhnen die Mutter Heimat gegen fremde Horden verteidigt. Wo infantile soziale Bindungen und Realitätsbezüge nicht überwunden wurden oder wo Menschen in sozialen Krisensituationen psychisch so überfordert sind, daß sie darauf zurückgeworfen werden, werden soziale Zusammenhänge unbewußt mit familiären gleichgesetzt. Dieses wird erst überflüssig, wenn Menschen ein mündiges Erwachsensein ermöglicht wird.

3. Die Neigung zur totalitären Gleichmacherei, die sich gegen alles Fremde wendet, resultiert auch aus einem fragwürdigen Umgang mit der Ge­schlechterdifferenz. Wie mit der Fremdheit von Menschen anderer Kulturen umgegangen wird, ist entscheidend vom Verhältnis zur Andersartigkeit des an­deren Geschlechts abhängig. Am Modell des Mütterlichen und Weiblichen ler­nen männliche Wesen den Umgang mit dem, was anders ist als sie selbst. Eine aus kulturellen Traditionen und Erziehungsprozessen resultierende Frauen­feindlichkeit bei Männern untergräbt deren allgemeine Toleranz gegenüber dem Andersartigen, an die jede Humanität gebunden ist. Die Untersuchungen über "autoritätsgebundene Charaktere", die zum Totalitären tendieren, zeigen eine Verbindung von unterschwellig angstbesetzter Frauenfeindlichkeit und "ethnozentristischen" Einstellungen. Die Abwehr und Diskriminierung des Weiblichen beim Mann, die sich nicht zuletzt auch auf die weiblichen Anteile der eigenen Person bezieht, geht nach den Forschungen von Adorno und an­deren mit der Ablehnung des Fremden, Andersartigen, Unbekannten einher. Wo Frauenfeindlichkeit eintritt, werden typischerweise neben Ausländern auch Juden, Homosexuelle, psychisch Kranke, also "Abweichler" aller Art, diskrimi­niert. Das Bild des abgelehnten Fremden zeigt bei Männern meist "feminine" Züge wie Gefühlsbetontheit, Mangel an Selbstdisziplin oder eine verführerische Sinnlichkeit. Militante Ausländerfeinde finden sich zur Zeit vorwiegend unter männlichen Jugendlichen, die als Pubertierende Schwierigkeiten mit dem an­deren Geschlecht haben und zugleich zu einer Überbetonung einer fragwürdi­gen Männlichkeit tendieren. Diese geht einher mit der Abwehr der weiblichen Anteile der eigenen Person. Wo die sexuelle Identität in starre, klischeehafte Muster gepreßt werden muß, in die ein lebendiges sinnliches Begehren kaum eingebracht werden kann, bekommen das nicht nur Frauen, sondern auch Ausländer zu spüren. Der Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit kann nur gelingen, wenn ein freieres Spiel der Geschlechterdifferenz zugelassen wird.

4. Die wahren Ausländer sind in Deutschland zur Zeit die Ossis für die Wessis und umgekehrt. Nicht zufällig hat die Ausländerfeindschaft in Deutsch­land parallel zum Prozeß der Wiedervereinigung zugenommen. Den meisten Westdeutschen sind frühere DDR-Bürger noch immer fremder als Amerikaner, Franzosen oder Türken. Da der Haß auf die deutschen Ausländer tabuisiert werden muß, wird er auf die ausländischen Ausländer verschoben. Die Wut auf die reichen und arroganten Westler im Osten und die Verachtung der armen östlichen Verwandten im Westen finden ihr Objekt durch Prozesse der Ver­schiebung im Ausländer. Vor der Wiedervereinigung wurde in Westdeutsch­land über die Probleme der Unterschichten in der Zweidrittelgesellschaft disku­tiert. Seit die sozialen Probleme vor allem bei den Menschen im Osten ange­siedelt sind, werden die Benachteiligten im Westen von der Politik vergessen. Sie können sich als Opfer der Wiedervereinigung erfahren, die zusehen müs­sen, wie das Geld von den Ossis abgezogen wird - das lassen sie die Auslän­der büßen. Diejenigen im Westen, die auf narzißtischen oder materiellen Gewinn durch die Identifikation mit einem stärkeren Gesamtdeutschland hoffen und diejenigen im Osten, die Geld aus dem Westen brauchen und deshalb auf die nationale Solidarität pochen müssen, dürfen nicht offen zugeben, daß ih­nen die anderen Deutschen, die alles durcheinanderbringen, wenig sympathisch sind. An den Ausländern, die angeblich alles durcheinanderbringen, können sie ihren Ärger über sie ablassen. Die Wiedervereinigung hat keines­wegs, wie manche hofften, die "nationale Frage" gelöst, sie hat sie vielmehr verschärft: Die Zahl der rivalisierenden Geschwister in der deutschen Konkur­renzgesellschaft hat zugenommen. Man braucht Außenfeinde, mit deren Hilfe die Aggressivität neutralisiert wird und die die feindlichen Brüder und Schwe­stern im nationalen Kollektiv zusammenrücken lassen.

5. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist in den östlichen und westlichen Gesellschaften der Außenfeind abhanden gekommen. Das Böse ist für die im Westen nicht mehr eindeutig am Osten festzumachen, auch wenn man sich hier alle Mühe gibt, die Probleme, die in den alten Bundesländern ungelöst sind, vor allem in der früheren DDR zu entdecken. Umweltzerstörung, arme Leute, Opportunismus und eine unaufgearbeitete Vergangenheit sind eben keineswegs nur dort aufzufinden. Daß die Weltbilder des Kalten Krieges ver­schwinden, hat Abrüstungsprozesse ermöglicht, die Kriegsängste reduzieren helfen, aber dieser Abbau hat auch bisher gebundene Ängste freigesetzt. Wo die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht mehr so eindeutig zu ziehen sind wie bisher, wird es schwerer Feinde auszumachen, denen die eigene unter­schwellige Aggressivität unterschoben werden kann. Wer, um ein prekäres psychisches oder soziales Gleichgewicht aufrechterhalten zu können, weiterhin auf Schwarz-Weiß-Bilder angewiesen ist, in denen das Böse, abgespalten vom Guten, nach außen verschoben ist, muß nach neuen Feindbildern Ausschau halten. Wer sich bedrohlichen äußeren und inneren Realitäten nicht stellen will oder kann, ist mehr denn je auf den Ausländer als Sündenbock angewiesen. Wieviel Offenheit Menschen gegenüber dem Unbekannten psychisch aushal­ten können, ist ein Index für ihre Emanzipiertheit. Die gegenwärtige konserva­tive Welle, die die bestehende westliche Welt als beste aller möglichen Welten ausgibt und die begriffslose Anpassung an geltende Regeln als illusionslose Nüchternheit preist, lebt von der Angst vor der Offenheit gegenüber notwendi­gen sozialen Veränderungen. Wer sich dieser Angst nicht stellen will, braucht Feinde, die die Verteidigung des Status quo rechtfertigen.

6. Das Wiedererstarken von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ist auch eine Folge der Krise der Linken. Mit dem Scheitern des totalitären Sozia­lismus haben auch andere Richtungen des Sozialismus an Ansehen verloren. Der Begriff der Solidarität, einst ein Kampfbegriff der sich als international ver­stehenden Arbeiterbewegung, wird heute vorwiegend in Verbindung mit dem Nationalen gebraucht. Die bestehende kapitalistisch geprägte Industriegesell­schaft scheint heute ohne Alternative zu sein. Die grundlegende Kritik, die die Linke an ihr geübt hat, erscheint als antiquiert oder wird nicht zur Kenntnis genommen. Das Leiden an der Verdinglichung des Humanen, an sozialer Unge­rechtigkeit, an Vereinsamung und Naturferne ist aber mit dem Fehlen einer ge­sellschaftlichen Alternative nicht aufgehoben und weckt weiterhin die Sehn­sucht nach Veränderung. Wenn die Linke keine intellektuell begründeten de­mokratischen Alternativen zum Bestehenden anbieten kann, muß die Kritik daran irrationale Ausdrucksformen annehmen. Wenn keine aufgeklärten gesellschaftlichen Alternativen präsentiert werden, mit denen sich Menschen identifizieren können, drohen kollektive Formen des Fundamentalismus, des Obskurantismus und Nationalismus. Die Linke hat die Aufgabe, über andere Formen der Vergesellschaftung nachzudenken und sie, soweit als möglich, praktisch zu erproben. Wo sie dazu nicht in der Lage ist, überläßt sie das So­ziale dem Nationalismus, der mit Hilfe von Außenfeinden die Menschen kollek­tiviert. Die bestehende Form westlicher Vergesellschaftung ist mit rücksichtslo­ser Konkurrenz und sozialer Atomisierung verbunden, an der die Menschen leiden. Gegen sie müssen Formen des Sozialen gesetzt werden, in denen die Wünsche und Interessen von Menschen aufgehoben werden können. Nur so kann dem Nationalismus mit seinen wahnhaften Fiktionen menschlicher Zu­sammengehörigkeit der Boden entzogen werden.