Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Begünstigt die christliche Religion die Gewalt?

Erschienen unter dem Titel "Vom Blut der Feinde Christi färbt sich das Meer rot" in der Frankfurter Rundschau am 1.4.2000
Fördert die christliche Religion Gewaltsamkeit? Seit dem Eingeständnis der Schuld der Christen durch Papst Johannes Paul II. am 12. März 2000 in Rom, seit seiner Bitte um Vergebung, die er auch auf seiner anschließenden Nahost-Reise wiederholte, ist diese Frage wieder aktuell. Vom Bremer Sozialpsychologen und Hochschullehrer Gerhard Vinnai erschien ebenfalls zu diesem Themenkomplex kürzlich im Fischer-Taschenbuch-Verlag das Buch "Jesus und Ödipus".

Eine vermeintliche Liebesreligion

Das Christentum versteht sich als Liebesreligion, seine Heilslehre ist um die erlösende Kraft der Liebe zentriert. Bei Paulus heißt es: "Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe." (1 Korinther 13, 13) Der christlichen Lehre zufolge opfert sich Jesus am Kreuz aus Liebe zu den Menschen, wer aber Christus liebt, soll dadurch Erlösung finden.

Die christliche Ethik propagiert nicht nur die Nächstenliebe, sondern auch die Feindesliebe: "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet." (Matthäus 5, 43-45) Jesus wendet sich besonders den Schwachen, den Kranken, den Ausgegrenzten zu, an ihnen vollbringt er seine Wunder. "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden", (Matthäus 5, 6) heißt es in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Die biblische Geschichte zeigt Jesus nicht an der Seite der Mächtigen, sondern an der Seite der kleinen Leute, die im Schatten der bisherigen Geschichte existiert haben. Er kommt im Stall von Bethlehem auf die Welt, Jünger und Anhänger findet er vor allem unter Handwerkern, Fischern oder Bauern. Christen, die sich in der Nachfolge Jesu sahen, haben sich in der Geschichte des Christentums darum bemüht, Mitmenschlichkeit und Solidarität zu verbreiten.

Aber im Namen des Christentums wurde keineswegs nur Gutes getan, es wurden auch schreckliche Grausamkeiten begangen. Das Christentum ist Teil einer westlichen Kultur, die sich in ihrer Geschichte häufig weniger durch Liebe als durch Gewalt und Intoleranz ausgezeichnet hat. Es gibt kaum eine Kultur, die mehr Krieg und Zerstörung in die Welt gebracht hat als die europäische, die sich viele Jahrhunderte lang als eine christliche verstand und teilweise noch heute versteht. Diese Gewalt wurde nicht zuletzt auch von Christen im Namen des Christentums begangen.

Schon der Kirchenvater Augustinus legitimierte die Gewalt zur Bekehrung von Ungläubigen. Die christlichen Kreuzfahrer wateten auf ihren Weg zum "Heiligen Land" durch ein Meer von Blut der von ihnen erschlagenen Juden und Muslime. Die katholische Inquisition hat diejenigen, die ihr als Abweichler vom rechten Glauben erschienen, auf grausame Art ermorden lassen. Viele Frauen sind der von katholischen und protestantischen Geistlichen getragenen Hexenverfolgung zum Opfer gefallen. Zwischen Protestanten und Katholiken ist es zu grausamen Religionskriegen gekommen. Der Zerstörung der indianischen Hochkulturen in Südamerika, die im Namen des Christentums organisiert wurde, sind unzählige Indios zum Opfer gefallen. Noch im 20. Jahrhundert haben sich christliche Kirchen immer wieder mit antidemokratischen reaktionären und faschistischen Mächten verbündet.

Untersucht man die Frage, warum sich das Christentum in seiner Geschichte mit zerstörerischer Gewalt verbunden hat, so kann man unschwer zu dem Ergebnis kommen, dass es falsch ist, alles Schreckliche, das im Namen des Christentums von Christen begangen wurde, allein oder auch nur primär der christlichen Religion zuzurechnen. Die Gewalt, die von Christen ausgeübt und von ihnen mit der christlichen Religion legitimiert wurde, hatte immer mit gesellschaftlicher Machtausübung und mit materiellen Interessen zu tun. Das Christliche diente häufig nur als Fassade, hinter der sich ganz andere soziale Kräfte Geltung verschafften.

Die Machtpolitik des Vatikans beispielsweise, die mit der christlichen Lehre legitimiert wurde, hatte jahrhundertelang mit den weltlichen Interessen des Kirchenstaates zu tun. Die Spanier, die die indianischen Hochkulturen Süd- und Mittelamerikas im Namen des Christentums zerstörten, waren vor allem an Gold und Arbeitssklaven interessiert. Die Verknüpfung von Thron und Altar hat in der Geschichte des deutschen Protestantismus immer wieder dafür gesorgt, dass er für die Interessen von Landesherren funktionalisiert wurde.

Die Gewaltsamkeit der europäischen Kultur ist kaum in erster Linie aus der christlichen Lehre abzuleiten, aber man kann in einer psychologischen Perspektive fragen, ob sie etwas enthält, was der Gewalt entgegenkommt, was sie begünstigen kann. Die christliche Lehre erlaubt vielerlei Auslegungen, sie lässt sich zu unterschiedlichen sozialen Problemen in Beziehung setzen und kann dabei auf verschiedene Art genutzt werden. Sie kann mehr Mitmenschlichkeit stiften, aber sie kann auch - und das soll im Folgenden aufgezeigt werden - die Ausübung von Gewalt erleichtern.

Aggressionstabus und Gewalt

Vergleicht man, welche Beziehung die griechischen Götter und Jesus Christus zur Gewalt haben, so lassen sich extreme Unterschiede ausmachen. Die griechischen Götter können liebevoll, fürsorglich und schützend erscheinen, aber sie sind meist auch rücksichtslos, verschlagen und gewalttätig. Jesus Christus erscheint hingegen als Gott der reinen Liebe, der die Gewalt verabscheut.

Die Gewalt, der griechische Götter ohne Skrupel zugetan sind, wird von Jesus tabuisiert. In der Bergpredigt, die im Zentrum der christlichen Ethik steht, ist Jesus bestrebt, extreme Aggressionstabus aufzurichten, die die Gewalt bannen sollen. Diese Tabus beziehen sich nicht nur auf Taten, sondern auch auf das Reden und sogar auf Phantasien und Gefühle.

Jesus bekräftigt nicht nur das mosaische Gebot "Du sollst nicht töten", er verschärft es, indem er nahezu alle aggressiven Regungen tabuisiert. "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten. Wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Dummkopf!, soll dem Spruch des hohen Rats verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein." (Matthäus 5, 21-22)

Eine ähnliche Verschärfung eines Tabus nimmt Jesus in Bezug auf die Sexualität vor. Er bekräftigt nicht nur das mosaische Verbot des Ehebruchs als Handlung, seine Verbote beziehen sich auch auf Gefühle und Wunschregungen. Alle Regungen, die die eheliche Sexualität überschreiten, sollen ihm zufolge durch Tabus gebannt werden. "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt." (Matthäus 5, 27-30)

Jesus richtet extreme Tabus auf, die so weit gehen, dass sie Denken und Fühlen mit Tun gleichsetzen. Warum kann eine solche Tabuisierung problematische Konsequenzen zeitigen? Wo Handlungen mit Phantasien, Wünschen oder Emotionen gleichgesetzt werden, wird verkannt, dass diese kaum bewusst steuerbar sind, sie kommen üblicherweise, wann sie wollen. Man kann Menschen für ihre Taten verantwortlich machen, aber kaum für ihre Gefühls- und Phantasiewelt. Wo beides gleichgesetzt wird, werden Menschen psychisch überfordert. Wo aggressive Regungen zu sehr tabuisiert werden, entzieht man sie der bewussten Bearbeitung. Das, was dem Tabu verfällt, kann nicht vom Bewusstsein verändert werden, man kann unter dem Zwang des Tabus nicht lernen, "gekonnter" mit Aggressionen umzugehen, um ihnen eine sozial nützliche Gestalt etwa beim Kampf um die Verbesserung der Verhältnisse zukommen zu lassen.

Die Gleichsetzung von Gefühlen und Phantasien mit Handlungen muss auch zu extremen Schuldgefühlen führen. Welche fatalen Konsequenzen eine solche Gleichsetzung haben kann, kann man am Beispiel von Kindern oder Zwangsneurotikern sehen. Diese haben die Tendenz, z. B. mörderische Gedanken mit mörderischen Taten gleichzusetzen, was zu mörderischen Schuldgefühlen führen muss, die die Lust am Leben zerstören können.

Wer sich extreme Schuldgefühle auflädt, weil bestimmte Anforderungen an die Psyche vom Ich nicht einzuhalten sind, muss sich selbst hassen. Wer aber sich selbst hasst, vermag kaum andere zu lieben, die als Mitmenschen dem eigenen Selbst ähnlich sind. Die Gläubigen, die Angst davor haben müssen, die Liebe Gottes zu verlieren, wenn sie Jesu Gebote nicht einhalten können, werden leicht dazu gebracht, ihre Aggressionen zu verdrängen.

Die Angst, die Liebe der Autorität zu verlieren oder von ihr bestraft zu werden, kann dafür sorgen, dass Aggressionen zwar nicht verschwinden, aber ins Unbewusste verbannt werden. Sie sind dort nicht mehr vom Ich erreichbar und zeigen die Tendenz, unter bestimmten Umständen auf fatale Art wiederzukehren. Wo überfordernde moralische Gebote nicht eingehalten werden können und diejenigen, die sich an sie halten sollen, sie notwendig permanent überschreiten müssen, entwickelt sich auch die Gleichgültigkeit gegenüber der Moral. Oder auch die Lust, die unlustvollen inneren Spannungen, die die überstrenge Moral hervorruft mit Hilfe der Lust an der Verbotsüberschreitung abzubauen.

Die Tabuisierung von Aggressionen mit Hilfe religiöser Gebote begünstigt nicht zuletzt auch die Verleugnung des aggressiven Potenzials der eigenen religiösen Anschauungen. Sie erschwert die Selbstkritik von Christen wie die von kirchlichen Institutionen. Liest man die biblischen Texte unbefangen, kann man immer wieder über deren grausame und lieblose Züge erschrecken, die Christen wohl nicht zuletzt wegen der ihnen auferlegten Aggressionstabus nicht ins Bewusstsein treten dürfen. Bei der Lektüre beispielsweise des Matthäus-Evangeliums kann man feststellen, dass Jesus, nachdem er in der Bergpredigt die Feindesliebe verkündet hat, sich anschließend kaum an dieses Gebot hält. Es gibt in diesem Evangelium eine Vielzahl von Äußerungen Jesu, in denen er seinen Gegnern Schlimmes androht. Dort heißt es beispielsweise: "Wenn man euch aber in einem Haus oder einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen. Amen, das sage ich euch: Dem Gebiet von Sodom und Gomorrha wird es am Tage des Gerichts nicht so schlimm ergehen, wie dieser Stadt." (Matthäus 10, 14, 15)

Die Jesus nicht nachfolgen wollen, können keineswegs mit seiner Liebe rechnen. "Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig." (Matthäus 10, 38) Seinen Gegnern, den Pharisäern und Schriftgelehrten, lässt Jesus keineswegs Liebe zukommen. Er droht ihnen vielmehr schlimme Höllenstrafen an: "Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?" (Matthäus 23, 33)

Besonders grausame Züge zeigt der Gott des Alten Testaments, bevor er sein Bündnis mit dem Volk Isreal schließt. "Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur Böse war. Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben." (Genesis 6, 5-7)

Nur die sehr einseitige Identifikation mit Noah und den Seinen, die vor der Sintflut gerettet werden, erlaubt es Christen, die hier sichtbar werdende extreme Grausamkeit Gottes zu übersehen. Nicht nur am Anfang, auch am Ende der Bibel zeichnet sich die göttliche Macht in der Offenbarung des Johannes durch extreme Grausamkeit aus. Den Gläubigen wird hier die Identifikation mit einem grausamen Gott angeboten, der seine Feinde ohne jedes Anzeichen der Nächsten- oder Feindesliebe vernichtet. Vom Blut der Feinde Christi färbt sich das Meer rot, oder sie werden endlos gequält. "Aber die Feiglinge und Treulosen, die Befleckten, die Mörder und Unzüchtigen, die Zauberer, Götzendiener und alle Lügner - ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein." (Offenbarung 21, 8)

In der Offenbarung des Johannes, und nicht nur dort, wird in der Bibel eine reine Macht des Guten einer reinen Macht des Bösen gegenübergestellt. Jesus und seine Anhänger kommen nach dem Jüngsten Gericht ins Paradies, der Teufel und seine Anhänger werden auf brutale Art ausgerottet. Was dazwischen liegt, wird als lau ausgeschieden. Derartige strikte Trennungen, an denen sich die Gläubigen orientieren sollen, erschweren es, widersprüchliche psychische Realitäten zu akzeptieren, die für die Existenz in dieser Welt typisch sind. Das Gute und das Böse, das Liebevolle und das Grausame sind in der Psyche des Menschen üblicherweise miteinander verknüpft. Das schafft Ambivalenzen, die oft nur schwer auszuhalten sind und denen man gerne durch psychische Spaltungen zu entkommen sucht.

Wo man zu solchen Spaltungen Zuflucht nimmt und diese von religiösen Interpretationen gestützt werden, tendiert man dazu, das Böse nicht an sich selbst zu akzeptieren, sondern es außerhalb seiner selbst, am Andern, am Fremden auszumachen. Das begünstigt die Verfolgung derjenigen, auf die die am eigenen Selbst verleugneten destruktiven Regungen verschoben werden.

Christliche Sexualfeindschaft und Gewalt

Im Christentum wird die Liebe als göttliches Gebot in Gestalt der Forderung nach Nächsten- oder Feindesliebe eingeführt. Sie soll durch Gewissensdruck, psychoanalytisch formuliert als Über-Ich-Forderung, durchgesetzt werden. Die Nächsten- und Feindesliebe erscheint als entsinnlichte, entkörperlichte, sie soll von der Erotik abgekoppelt sein. Aber die Liebe kann kaum durch moralische Gebote verordnet werden. Sie kann nur Macht gewinnen, wo das Begehren besteht zu lieben, wo die Liebe vom Wunsch gespeist wird.

Die Psychoanalyse hat aufgezeigt, dass alle mit der Liebe verknüpften Wunschregungen mit sexuellen Triebregungen verwandt sind, dass sie immer auf irgendeine Art mit der Erotik verknüpft sind. Nur der Eros kann der Liebe ihre Kraft verleihen. Die Sexualität kann nach psychoanalytischen Einsichten aggressive Regungen neutralisieren, zur Entschärfung von Aggressivität sind libidinöse Triebkräfte nötig. Auch die scheinbar entsinnlichte Nächstenliebe, die die Bibel fordert, muss nach den Einsichten der Psychoanalyse als sublimierte Variante des Sexuellen begriffen werden.

Wo die Macht des Eros mit Hilfe der Religion bekämpft wird, fehlen Energien, die die Gewalt binden können. Die Diskriminierung der Sexualität begünstigt die Freisetzung von Aggressionen. Die christliche Tradition ist sexualfeindlich. Im Horizont des christlichen Glaubens hat diese Einstellung ihr Wahrheitsmoment: Die Sexualität ist nichts Harmloses, sie begünstigt Neidreaktionen und Rivalitätskonflikte unter den Menschen, sie kann Menschen auf fatale Art aneinander und an eine schlechte Welt binden, was der Orientierung an einer besseren, anderen Welt entgegensteht. Aber ohne die Sexualität gibt es auch kein Bindemittel für die Aggression. Den Gefährdungen, die von der Sexualität ausgehen, kann man nicht durch ihre Diskriminierung entkommen, sondern allenfalls durch die sie vermenschlichende Bearbeitung der Sexualität.

Die Sexualfeindschaft ist in den biblischen Texten fest verankert, sie ist keineswegs nur eine mit dem Christentum verknüpfte historische Zufälligkeit. Im Alten Testament erfährt die Erotik noch positive Würdigungen, im "Hohe Lied Salomo" wird das Göttliche sogar in einer erotischen Sprache gepriesen. Im Neuen Testament dominiert hingegen die Ablehnung der Sexualität, nirgendwo wird die Erotik, die körperliche Sinnlichkeit, oder die Verführungskraft einer Frau gepriesen. Während sich etwa die griechischen Götter durch sexuelle Leidenschaften auszeichnen, soll das Göttliche in der christlichen Religion jenseits des Sexuellen angesiedelt sein.

Die "Heilige Familie" ist ohne Sexualität. Maria empfängt Jesus auf jungfräuliche Art, ohne dass sexuelle Leidenschaften im Spiel sind. Joseph, Jesus Vater, ist kein richtiger Vater, seine Sexualität ist bei der Zeugung nicht im Spiel. Jesus, der Sohn, zeigt sich frauenfreundlich, aber er zeigt kein erotisches Interesse an Frauen.

Besonders deutlich kommt eine christliche Sexualfeindschaft bei Paulus zum Ausdruck. Bei ihm heißt es: "Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber ein jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben. Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber ihrem Mann." (1. Korinther 7, 1-3) In dieser Äußerung erscheint die Sexualität prinzipiell als ein Übel, das mit Hilfe der Ehe gezähmt werden soll. Die Sexualität soll keine Lust oder Freude spenden, sie soll allenfalls als unvermeidbar akzeptiert werden.

Nicht nur der Heterosexualität kann Paulus wenig Erfreuliches abgewinnen, seine besondere Abneigung gilt der Homosexualität. Die "Knabenschänder" werden von ihm mit Mördern und Menschenhändlern in eine Reihe gestellt. Paulus' Einstellung steht keineswegs im Gegensatz zur Einstellung Jesu. Im oben angeführten Zitat aus der Bergpredigt verhängt Jesu ein extrem strenges Tabu über jede außereheliche sexuelle Regung. Im Paradies soll Jesus zufolge die Sexualität überwunden sein. "Denn nach der Auferstehung werden die Menschen nicht mehr heiraten, sondern sein, wie die Engel im Himmel", (Matthäus 22, 30) heißt es im Matthäus-Evangelium. (. . .)

Das Neue Testament will die Liebe von der Sexualität abtrennen, Agaphe steht gegen Eros. Diese Abspaltung hat im Text der Offenbarung zur Konsequenz, dass die von der Liebe abgelöste Sexualität dem Bösen zugerechnet wird und mit ihm am Ende der Zeiten gerichtet werden soll. Für die Lüsternen gelten dort die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe nicht mehr, sie sollen grausam bestraft werden.

Der "Heiligen Stadt Jerusalem", die die reine Liebe beherbergt, wird eine andere Stadt, die "Große Hure Babylon" entgegengesetzt "die große Hure, die an vielen Gewässern sitzt. Denn mit ihr haben die Könige der Erde Unzucht getrieben und vom Wein ihrer Hurerei wurden die Bewohner der Erde trunken." (Offenbarung 17, 23)

Die Hure Babylon repräsentiert historisch betrachtet für die frühen Christen das Römische Reich. Aber es ist kein Zufall, dass ihre Verderbtheit mit einer verwerflichen weiblichen Sexualität verknüpft wird. Mit der Sexualfeindlichkeit einer patriarchalisch geprägten Religion geht die Frauenfeindlichkeit einher. Die Frauen werden gehasst und verachtet, weil sie beim Mann die böse, verführerische Sexualität provozieren. Mit der verführerischen Eva ist die Sünde in die Welt gekommen, die Frauen, deren prekärer sinnlicher Verführungskraft die Männer zu verfallen drohen, müssen männlicher Macht unterworfen werden, um die Gefahr, die von ihnen ausgeht, zu bannen. Der Versuch, die Liebe zu entsinnlichen, endet in Lieblosigkeit.

Religiöse Intoleranz und Gewalt

Die Gewalt, die im Namen des Christentums ausgeübt wurde, ist mit Intoleranz gegenüber den Angehörigen anderer Religionen, anderer christlicher Konfessionen oder Ungläubigen verbunden. Die Antike kennt verschiedene Götter, die Gläubigen haben eine gewisse Wahlfreiheit, wenn sie ihren Schutz suchen. Der Götterhimmel garantiert eine Art "Pluralismus". Im christlichen Monotheismus gibt es hingegen nur einen dreieinigen Gott, eine Wahrheit, ein Gesetz.

Das erste und zentrale Gebot Mose lautet: "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Wo ein Gott als alleiniger Herrscher dieser Welt eingesetzt wird, besteht eine Tendenz zur Intoleranz gegenüber den Göttern, an die sich andere gebunden fühlen. Man tendiert dazu, die zu bekämpfen, die sich dem eigenen einzigen Gott nicht unterwerfen wollen. Die Intoleranz von Christen ist aber nicht nur mit dem Monotheismus verknüpft, sie wurzelt vor allem in geheimen Glaubenszweifeln.

Das Christentum behauptet, dass ein guter Gott, ein liebender Vater im Himmel die Welt geschaffen hat. Aber die Gläubigen müssen in einer Welt voller Gewalt, Ungerechtigkeit und Einsamkeit existieren. Müssen da nicht Zweifel an diesem Gott aufkommen, müssen sie sich nicht einen anderen Gott wünschen? Müsste man diesen Gott nicht hassen, der ihnen so viel Schweres auferlegt?

Die Theologen haben immer wieder versucht, diesen Gott zu entlasten, indem sie, seit Augustinus, das Böse, das in der Welt ist, nicht Gott, sondern der menschlichen Freiheit zuordnen. Aber das kann den atheistischen Gedanken, dass das einzige, was man zur Entlastung dieses Gottes vorbringen kann, ist, dass es ihn nicht gibt, nicht ganz aus der Welt schaffen. Der christlichen Erlösungsreligion zufolge ist das Heil mit Jesu Tod und Auferstehung in die Welt gekommen. Seit Jesu' Opfer am Kreuz soll die Erlösung bereits in der Welt sein. Aber kann man daran in einer Welt voller Elend ohne weiteres glauben? Müssen nicht notwendig Zweifel an Jesus als dem Messias auftreten? Wo bleibt der Hass auf Gott, wo bleiben die Zweifel an der Erlösung durch Christus, die auf Grund der Verfasstheit der Welt doch kaum zu vermeiden sind? Wie geht die Bibel mit den Glaubenszweifeln um, die doch bei allen Christen mehr als wahrscheinlich sind? Selbst Jesus ist nicht ohne Glaubenszweifel. (. . .)

Das Urchristentum lebt in der Naherwartung der Wiederkehr des Messias, durch den alles neu und anders werden soll. Da er nicht wie erwartet erscheint, müssen bei den frühen Christen Glaubenszweifel auftreten. Die entstehende katholische Kirche versucht, diese Zweifel mit Hilfe der Festlegung von religiösen Dogmen abzuwehren, die bei Jesus noch nicht existieren. Sie sollen als direkt von Gott kommend gelten und für die Gläubigen verbindlich sein. Ihre Ablehnung wird mit schweren Strafen bedroht.

Das Konzil von Ephesus im Jahre 431 verbietet, unter Androhung schwerster Strafen, eine andere Lehre als die von den Dogmen geforderte auch nur zu denken. Im Jahre 1252 erließ Papst Innozenz eine Bulle "Ad Extirpanda", die Andersgläubige mit Dieben und Räubern auf eine Stufe stellt und die weltlichen Herrscher verpflichtete, alle "Häretiker" zum Geständnis und zum Verrat ihrer Genossen zu zwingen und an den für schuldig Befundenen binnen fünf Tagen die Todesstrafe zu vollstrecken. Thomas von Aquin, der bis heute einflussreichste katholische Kirchenlehrer, formulierte zu dieser Zeit: "Was die Ketzer anlangt, so haben sie sich einer Sünde schuldig gemacht, die es rechtfertigt, dass sie nicht nur von der Kirche vermittels des Kirchenbannes ausgeschieden, sondern auch durch die Todesstrafe aus dieser Welt entfernt werden. Ist es doch ein viel schwereres Verbrechen, den Glauben zu verfälschen, der das Leben ist, als Geld zu fälschen, das dem weltlichen Leben dient. Wenn also Falschmünzer oder andere Übeltäter rechtmäßigerweise von weltlichen Fürsten sogleich vom Leben zum Tod befördert werden, mit wie viel größerem Recht können Ketzer unmittelbar nach ihrer Überführung wegen Ketzerei nicht nur aus der Kirchengemeinschaft ausgestoßen, sondern auch billigerweise hingerichtet werden."

Die katholische Inquisition hat lange Zeit Abweichler von den durch Dogmen festgelegten kirchlichen Glaubenslehren mit großer Grausamkeit verfolgt. Noch im 19. Jahrhundert haben Päpste die Glaubens- und Gewissensfreiheit als wahnhaften, verwerflichen Irrtum bezeichnet. (. . .)

Katholiken wie Protestanten haben Menschen, die angeblich der Teufel vom rechten Glauben abgebracht hat, auf grausame Art wegen Hexerei ermorden lassen. Die kirchlichen Institutionen haben jahrhundertelang mit Gewalt den Kampf gegen Glaubenszweifel geführt, sie haben Tabus aufgerichtet, die die Gläubigen dazu gezwungen haben, Glaubenszweifel zu verdrängen. Aber äußere Zwänge und die innere Angst vor der Verzweiflung bei der Abweichung vom rechten Glauben können Glaubenszweifel nie zum Verschwinden bringen.

Die verdrängten Zweifel kehren wieder, indem sie an denen bekämpft werden, die als Andersgläubige oder Ungläubige den einen Gott nicht akzeptieren. Die Intoleranz von Christen hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie ihren eigenen auf die anderen verschobenen Unglauben an diesen bekämpfen. Die anderen haben die eigenen verpönten Glaubenszweifel zu repräsentieren, die am eigenen Selbst nicht toleriert werden.

Besonders deutlich kommt dies im christlichen Antisemitismus zum Ausdruck. Gegen die Juden werden vor allem zwei Vorwürfe erhoben: sie sollen Gott getötet haben und sie glauben nicht an Jesus als den Messias. Sie repräsentieren damit insgeheim die Glaubenszweifel von Christen, die Gott gewaltsam vom Thron stürzen wollen, die sich einen anderen Gott wünschen, dessen Gerechtigkeit offensichtlicher ist, und die Zweifel daran haben, dass sie durch Jesus bereits erlöst sind. Der Hass auf die Juden ist ein geheimer Hass auf den christlichen Gott, der auf die Juden verschoben wird. Die Juden, mit denen gläubige Christen eigentlich Mitleid haben müssten, weil sie den Zugang zum rechten Glauben noch nicht gefunden haben, werden gehasst, weil die Christen an ihren Gott der Liebe nicht wirklich zu glauben in der Lage sind. (...)

Die christlichen Kirchen sind heute toleranter als in früheren Epochen. Sie wollen niemand mehr mit Gewalt ihre Glaubenslehren aufzwingen. Moderne Theologen wie Paul Tillich haben akzeptiert, dass es keinen wirklichen Glauben ohne Glaubenszweifel geben kann. Die Erfahrung, selbst Minderheit zu sein, erlaubt konsequenten Christen heute die Erfahrung der Bedeutung der Toleranz gegenüber Minderheiten.

Wo die Kirchen an Macht verloren haben, können Christen im Sinne der humanen Elemente ihrer Religion christlicher werden. Aber noch werden in der christlichen Verkündigung in Kirchen und in den Medien "Glaubensgewissheiten" verbreitet, obwohl der oft eigentümliche Tonfall, in dem sie verbreitet werden, bereits darauf hinweist, dass man nicht unbedingt wirklich an sie glaubt. Es ist leicht, tolerant zu sein, wenn man nicht die Macht hat, seine Meinung durchzusetzen. Würden die Kirchen auch Toleranz predigen, wenn sie noch so viel Macht hätten wie früher?