Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Jesus und Ödipus - Zur Psychoanalyse der Religion

Taschenbuch (1999) Fischer-TB.-Vlg., Ffm; ISBN: 3596144787, 281Seiten*
Gerhard Vinnai : Jesus und Ödipus (COVER)
"Die letzten 76 Seiten sind das Beste, was ich seit
langem zur Beziehung von Psychoanalyse und
Religion gelesen habe."*
Hartmut Raguse (PSYCHE 12, 2002)

Klappentext

Offenbar hat Jesus als die Gründungsfigur des Christentums an Einfluß eingebüßt, während Ödipus, der im Zentrum der Freudschen Psychoanalyse steht, zur Bezugsfigur all jener geworden ist, die sich in der nachchristlichen Moderne um ein angemessenes Verständnis der menschlichen Seele bemühen. Gerhard Vinnais Studie unternimmt den Versuch, ausgehend von der Psychoanalyse, die verstecke Verwandtschaft zwischen beiden Sinngestalten der westlichen Kultur aufzudecken. So entwickelt das Buch eine psychoanalytische Interpretation der christlichen Lehre, die darlegt, daß Leben, Tod und Auferstehung des christlichen Jesus als Chiffren des unbewußten Dramas zu entziffern sind, das Sigmund Freud unter dem Namen des antiken Ödipus thematisiert hat. Diese psychoanalytische Lesart der Lehre Jesu gestattet es, Tiefendimensionen unserer individuellen und kollektiven Geschichte zu artikulieren, die in der Religion selbst so nicht verhandelt werden können. Vinnai bedient sich dabei nicht nur der Instrumente Freudscher Religionskritik, vielmehr wendet er seine Befunde kritisch auf Freuds Werk an, um das in der Psychoanalyse selbst noch Verdrängte bewußt zu machen. Insofern darf sich Vinnais Darstellung auch als ein Beitrag zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Kulturtheorie Freuds verstehen.-

Es ist die innere Verwandtschaft zwischen zwei herausragenden Sinngestalten der westlichen Kultur, zwischen Jesus und Ödipus, die der Sozialpsychologe Gerhard Vinnai untersucht. Indem er nach den Bezügen dieser beiden Gestalten des abendländischen Bewußtseins fragt, buchstabiert er zugleich das Verhältnis von Psychoanalyse und Christentum aus, legt also die Grenzen Freudscher Religionskritik wie die Potentiale einer psychoanalytisch inspirierten Kulturtheorie frei.

Rezensionen zu "Jesus und Ödipus"

Inhalt*

  • Einleitung 7
  • Die Liebesreligion als Religion der Gewalt 18
  • Vom Anfang und Ende der (biblischen) Geschichte 54
  • Jesus und Ödipus 96
  • Kreuzigung und Kastration 96
  • Vaterliebe und Vaterhass 104
  • Kreuzigung und Urszene 119
  • Vatergott und Mutterreligion 145
  • Glaube und Narzissmus 185
  • Religion und Massenbindung 191
  • Die Wiederkehr des von Freud Verdrängten in seiner Religionskritik 199
  • Zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft 199
  • Die Wiederkehr der Vatersehnsucht 204
  • Die Wiederkehr des Politischen 222
  • Das Andere im Innern 246
  • Die Macht des Kindlichen 247
  • Gott und das Unbewusste 260
  • Die andere Welt im Diesseits 267
  • Anhang
  • Literaturverzeichnis 275
  • Namenregister 279

Einleitung

Jesus und Ödipus sind zentrale Figuren der europäischen Innerlichkeit. Viele Jahrhunderte haben Menschen im Abendland ihre Erfahrungen mit sich und der Welt mit Hilfe der Jesusgestalt bearbeitet, die im Zentrum der christlichen Religion steht. Sie haben einen Sinn für ihr Leben gesucht, indem sie sich Christus zum Vorbild genommen haben; er bedeutete für sie eine Zuflucht vor inneren und äußeren Bedrängnissen. Der christliche Jesus hat an Einfluss verloren, der Ödipus, der im Mittelpunkt der Lehre Sigmund Freuds steht, hat ihn in mancher Hinsicht-abgelöst und wird in einer nachchristlichen Moderne von vielen in Anspruch genommen, um seelische Probleme zu bearbeiten. Das eigene Selbst, das früher mit Hilfe der Lehre Jesu gesucht wurde, kann heute mit Hilfe der Psychoanalyse erkundet werden, die ihr Begründer um eine Konfliktkonstellation zentriert hat, die er mit dem Namen der antiken Sagen- und Tragödiengestalt Ödipus versehen hat. Der folgende Text will, von der Psychoanalyse ausgehend, die Verwandtschaft zwischen diesen beiden Sinngestalten der westlichen Kultur klären helfen, indem er die Beziehung von Psychoanalyse und christlicher Religion untersucht. Er liefert sowohl eine Interpretation der biblischen Lehren Jesus, die im Horizont der von Freud initiierten psychoanalytischen Religionskritik angesiedelt ist, als auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Lehre Freuds, die von seiner Religionskritik ausgeht.

Nicht dem historischen Jesus, über den die Wissenschaft kaum etwas weiß, gilt das Interesse dieser Arbeit, sondern dem Jesus, der sich in der Seele der Menschen Geltung verschafft hat und noch verschafft. Für gläubige Christen gilt, dass sie Jesus in ihrem Herzen tragen, dass er in ihnen wirkt. Bei Martin Luther heißt es: »Durch den Glauben ist Christus in uns, ja eins mit uns.« Mit Hilfe der Psychoanalyse soll untersucht werden, welche verborgenen psychischen Kräfte in diesem Erleben ihren Ausdruck finden. Gottesvorstellungen sind mit der seelischen Verfasstheit der Gläubigen verbunden. In der Sprache der modernen Psychologie heißt das, dass sich in Gottesbildern Persönlichkeitsstrukturen und die mit ihnen verknüpften psychischen Prozesse niederschlagen. Die Menschen können ihre eigene psychische Verfasstheit nie völlig durchschauen. Da die Psyche unbewusste Anteile enthält, die bewusst gemacht zu haben das zentrale Verdienst der Psychoanalyse ausmacht, verkennen sie notwendig mehr oder weniger, wer sie sind. Die begrenzte Möglichkeit der Einsicht in die eigenen seelischen Strukturen führt nach Freud zu »Denkillusionen«, die ihm zufolge religiöses Bewusstsein möglich machen. Was die Menschen im geheimen sind, was sie an sich nicht wahrhaben können oder wollen, führt zu »Psycho-Mythologien«, die den psychischen Kern des Religiösen ausmachen. Bereits 1897, also vor seinen entscheidenden psychoanalytischen Veröffentlichungen, schreibt Freud an seinen Freund Wilhelm Fließ: »Die unklare innere Wahrnehmung des eigenen psychischen Apparates regt zu Denkillusionen an, die natürlich nach außen projiziert werden und charakteristischerweise in die Zukunft und in ein Jenseits. Die Unsterblichkeit, die Vergeltung, das ganze Jenseits sind Darstellungen unseres psychischen Innern [...] Psycho-Mythologie.« Dem Bewusstsein entzogene, ihm fremd gebliebene oder gewordene Mächte in der eigenen Psyche erzeugen diesem Gedanken zufolge Vorstellungen, die den Gläubigen als göttliche Mächte gegenübertreten. Schon Ludwig Feuerbach hat argumentiert, dass religiöse Bewusstseinsformen Äußerungen von undurchschauten menschlichen Wesenskräften sind, die gewissermaßen auf den Himmel projiziert werden: »Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.« Freud, der Feuerbach sehr geschätzt hat, denkt auf verwandte, wenn auch ungleich nüchternere Art als dieser und fasst religiöse Vorstellungen als Projektionen unbewusster psychischer Regungen auf. »Ich glaube in der Tat, dass ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewussten spiegelt sich [...] in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewussten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen von Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit und dergleichen in solcher Meise aufzulösen, Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen.« Die Psychoanalyse hat die Aufgabe, die andere Welt der Religion als Ausdruck der anderen Welt des Unbewussten kenntlich zu machen.

Gottesbilder werden in verwandter Gestalt üblicherweise von vielen Menschen geteilt, ihre individuelle Ausformung erlangen sie nur innerhalb eines sozial vorgegebenen Rahmens. Ihre psychoanalytische Untersuchung kann deshalb Auskunft über die kollektive Verfasstheit des Unbewussten von Menschen in einer bestimmten Kultur geben. Religiöse Vorstellungen, wie die des Christentums, die ursprünglich von einem Religionsstifter und seinen Jüngern und später von Geistlichen in religiösen Institutionen entwickelt wurden, können nur dadurch eine weitreichende soziale Geltung erlangen, dass sie dem Unbewussten vieler Menschen entsprechen. Der Einfluss der Religion entspringt, in einem psychoanalytischen Interpretationshorizont, nicht einer irgendwie gearteten transzendenten Macht, sondern der Macht von Unbewusstem unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Jesusfigur erlangt als Äußerung von kulturell erzeugten unbewussten Phantasien, Konflikten, Triebregungen oder Gefühlen ihre Bedeutung. Jesus und seine Lehre hatten im Bewusstsein früherer europäischer Generationen eine immense Bedeutung, die auch noch im heutigen nachchristlichen Bewusstsein fortwirkt. Ihr psychoanalytisches Verständnis erlaubt deshalb einen Zugang zu den Tiefendimensionen der okzidentalen Kultur. Man kann die Jesusfigur, in einer religionskritischen psychoanalytischen Perspektive, als ein Symptom verstehen, dessen unbewusste Wurzeln die sozialpsychologischen Geheimnisse dieser Kultur enthalten. Jesus symbolisiert auf verschlüsselte Art eine geheime psychologische Wahrheit des Abendlandes, die es zu enthüllen gilt.

Das Christentum hat sich im Laufe seiner Geschichte gewandelt, jede seiner Epochen bringt für sie typische Jesusbilder hervor. Die Jesusfigur wirkt im Christentum als eine Art Projektionsfläche, an der unter dem Einfluss sich wandelnder Erfahrungswelten, in denen sich gesellschaftliche zwänge und Möglichkeiten niederschlagen, Verschiedenes identifiziert wird. Dass man über den historischen Jesus und seinen originären Anteil an den christlichen Lehren auch heute noch wenig weiß, hat das Christentum keineswegs geschwächt. Dieser Sachverhalt hat vielmehr dafür gesorgt, dass die Jesusgestalt als eine solche Projektionsfläche, der sich die christliche Innerlichkeit bedienen konnte, besonders geeignet war. Diese Arbeit will helfen, das Christentum zu begreifen, indem sie sich dieses in einer Gestalt vornimmt, die noch nicht durch die Aufklärung und die Anpassung an die moderne Welt um seine Substanz gebracht worden ist. Die Untersuchung eines Jesusbildes, das von einem solchen Christentum hervorgebracht wurde, trägt am ehesten zum tieferen Verständnis des Christentums bei. Dieses Buch orientiert sich nicht an modernen, zunehmend einflusslos gewordenen christlichen Glaubensformen, es orientiert sich an einem traditionellen, geschichtsmäßig gewordenen Christentum und nimmt sich deshalb einen seiner zentralen Texte vor, die Bibelübersetzung von Martin Luther. (zum leichteren Verständnis allerdings in einer kirchlich genehmigten fragwürdig modernisierten Form.) Deren Textmaterial soll durch Äußerungen Luthers und bedeutender mittelalterlichen Theologen und Mystiker ergänzt werden, die dazu beitragen können, das Wesen des historischen Christentums leichter sichtbar werden zu lassen. Die Lutherbibel gilt als zentrales heiliges Buch des Protestantismus, das auch dessen katholische Widersacher beeinflusst hat. Als Übersetzung, die nicht nur für Theologen, sondern auch für den »gemeinen Mann« erstellt wurde, hat sie großen, bis heute fortwirkenden Einfluss auf Christen erlangt. Als Text, der am Ende des Mittelalters, an der Schwelle zur Neuzeit, verfasst wurde, nimmt er das Erbe des mittelalterlichen Christentums in sich auf und verweist auf das Christentum der bürgerlichen Epoche. Dass die Bibelübersetzung Luthers bei der Entstehung der deutschen Hochsprache eine entscheidende Rolle gespielt hat, verleiht ihr eine zusätzliche Bedeutung. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, entsprechend der Intention einer historisch-kritischen Bibelforschung, herauszufinden, ob Luther seine hebräischen und griechischen Quellen richtig übersetzt hat. Sie will auch nicht herausfinden, was in der Bibel wirklich von Jesus stammt oder wem welche Passagen zu verdanken sind. Sie analysiert den biblischen Text in einer Gestalt, die eine sehr weitreichende psychische Besetzung erfahren hat und deshalb Auskunft über eine historisch wirksame christliche Innerlichkeit geben kann.

Die folgenden Analysen haben nicht den Kampf gegen bestehende Kirchen und ihre Lehren zum ziel. Die Aufklärung hat hier ihr Werk getan; außerdem besorgen der moderne kapitalistische Konsumismus und seine Zerstreuungskultur die Schwächung des Christentums viel gründlicher als jede Aufklärung. Die Arbeit zielt auf eine kritische Sozialpsychologie der westlichen Kultur, die deren verdrängte Schattenseiten ans Licht heben will. Die Bewusstmachung der seelischen Mechanismen, die im Bereich der Religion wirksam sind, soll nicht nur deren Verständnis dienen, sondern auch dem Verständnis von ihr nachfolgenden, ohne sie organisierten Realitätsbezügen, in denen diese Mechanismen fortwirken. Die Psychoanalyse kann deutlich machen, dass es notwendig ist, sich immer wieder von neuem mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, um sich der Zukunft zu öffnen. Die Vergangenheit muss ständig neu auf gearbeitet werden, wenn ihre unbewältigten Elemente uns nicht der Gegenwart und Zukunft entfremden sollen. Was für die individuelle Geschichte gilt, gilt auch für die kollektive. Die geschichtliche Vergangenheit enthält unbewältigte kollektive Traumatisierungen, die durchgearbeitet werden müssen, um Fixierungen an sie zu lockern, und unerlöste Wünsche, die ins Bewusstsein gehoben werden sollten, um die aktuellen Beziehungen zur Welt zu bereichern. Die gegenwärtige westliche Kultur wird, auch wo sich ihre Mitglieder nicht mehr als christlich verstehen, doch von einer christlichen Vergangenheit entscheidend mitgeprägt. Ihr Einfluss ist auch auf jene, die sich dem Christentum gegenüber kritisch oder gleichgültig verhalten, keineswegs erloschen. Man kann viele Jahrhunderte Christentum, das unsere Vorfahren gelebt haben, nicht ohne weiteres abstreifen, sie wirken, ob wir es wollen oder nicht, noch in uns fort. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum ist deshalb eine notwendige Auseinandersetzung mit unser aller Vergangenheit.

Dieses Buch wendet die psychoanalytisch orientierte Kritik nicht nur auf die christliche Religion an, sondern in seinem zweiten Teil auch auf ein wissenschaftliches Denken, das der Religion seinem Anspruch nach entgegensteht. Die Interpretationsmuster, die Freud zur Kritik der Religion entwickelt hat, lassen sich in verwandter Gestalt auch gegen Züge seines eigenen theoretischen Denkens richten. Nicht nur die Religion, auch die von Freud propagierte Wissenschaftlichkeit weist unbewusste Elemente auf, die es dem Bewusstsein zugänglich zu machen gilt, um die Aufklärung voranzubringen. Das Ödipale, das Freud im Bereich der Religion ausgemacht hat, beeinflusst auch seine Arbeit an der Psychoanalyse. Der Macht von Wünschen, die Freud im Bereich der Religion am Werk sieht, ist auch die Wissenschaft keineswegs völlig entronnen. Dies zu ihrem Nachteil, aber keineswegs nur dazu: Es gilt noch Potentiale der Religion, die Freud aus der Wissenschaft verbannen wollte, für das kritische Denken nutzbar zu machen. Im dritten Teil dieses Buches, »Das Andere im Innern«, werden hierzu Gedanken vorgetragen. Der Übergang vom religiösen zum wissenschaftlichen Weltbild bedeutet einen Fortschritt, aber dieser Fortschritt wurde mit Verlusten bezahlt, über die es noch nachzudenken gilt. Dies nicht, um, der Religion eine neue Legitimationsgrundlage zu verschaffen, sondern um die Aufklärung durch das in der Religion noch nicht Abgegoltene zu bereichern.

Eine nur psychoanalytische Interpretation der christlichen Religion reicht keineswegs aus, um ihr Wesen zu begreifen. Die Bibel ist auch geistesgeschichtlichen, historischen, soziologischen oder philosophischen Auslegungen zugänglich, die durch eine psychoanalytische Interpretation ergänzt, aber keineswegs ersetzt werden können. Bereits Freud hat auf die Grenzen der psychoanalytischen Religionskritik hingewiesen. »Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminiertheit psychischer Akte und Bildungen auf gedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, dass sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist; eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als auch die Absicht des Psychoanalytikers.« Außerdem ist durchaus mehr als nur eine sinnvolle psychoanalytische Interpretation des Bibeltextes möglich.

Auch die folgenden Untersuchungen bringen verschiedene psychoanalytische Theoriekonstruktionen zur Anwendung, ohne dass das dabei zutage Geförderte ein völlig konsistentes Ganzes ergibt. Selbst wissenschaftliche Texte lassen verschiedene Interpretationen zu. Um so mehr gilt das für einen vielschichtigen religiösen Text wie den der Bibel. Er lässt sich zu sehr unterschiedlichen Denkformen und psychischen und sozialen Problemen in Beziehung setzen.

Die Bibel führt eine vom Männlichen beherrschte Religion vor und verdankt ihren Einfluss einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft. Beiden im folgenden vorgeführten Übersetzungen des biblischen Textes in psychoanalytische Konstruktionen ist deshalb zu beachten, dass es sich bei diesen um idealtypische Konstruktionen handelt, die auf eine patriarchalische Ordnung bezogen sind. Begriffe wie Vater, Mutter oder Kind sollten bei der Lektüre nicht zu konkretistisch verstanden werden, es handelt sich dabei um mit der patriarchalischen Familie verknüpfte soziale Funktionen. Die Begriffe verweisen auf Positionen in einer symbolischen Ordnung, die von einer Kultur zur Verfügung gestellt werden, die aber erst verknüpft mit der Phantasietätigkeit des Kindes ihre besondere Bedeutung erlangen. Die Texte der Bibel wurden von Männern verfasst, und innerhalb kirchlicher Institutionen vor allem von Männern interpretiert und verbreitet. Es scheint deshalb sinnvoll, sie aus einer männlich akzentuierten Perspektive zu interpretieren, der sie auch ihre Entstehung und ihren Einfluss verdanken. Außerdem sollte ein Autor akzeptieren, dass alle seine Interpretationen mit einer männlichen Identität verknüpft sind, auch wenn in seiner Psyche, wie in der aller Männer, Weibliches wirkt, das den Zugang zum Weiblichen möglich macht. Eine solche Textauslegung kann für Frauen zum Ärgernis werden. Eine von Frauen durchgeführte Bibelinterpretation könnte und sollte zu durchaus anderen Ergebnissen kommen.

Die folgenden Analysen versuchen sich relativ eng nicht nur an die Texte der Lutherbibel, sondern auch an Texte Sigmund Freuds anzulehnen. Die Rezeption der biblischen Schriften ist bei Christen wie Nichtchristen häufig durch Unkenntnis, durch die Wahrnehmung verzerrende Wunschvorstellungen oder blind machende Abwehr verstellt. Dies gilt in verwandter Form auch für das Verhältnis zu den Schriften Freuds. Um diesem entgegenzuwirken und die Urteilsbildung zu erleichtern, soll ausgiebig aus den Texten der Lutherbibel, ebenso wie aus Texten Freuds und seiner zeitgenössischen Mitstreiter zitiert werden.

Der Vorteil einer möglichst textnahen Analyse hat den Nachteil, dass die historisch-politische Reflexion zu kurz kommt, es gibt nur an einigen Stellen des Buches Ansätze hierzu. ~In jeden religiösen, ebenso wie in jeden psychologischen Text, geht eine bestimmte geschichtliche Konstellation ein. In ihm verschaffen sich bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und eine auf sie bezogene psychische Verfasstheit Geltung. Die Lutherbibel verarbeitet seelische Probleme, die mit dem krisenhaften Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit verknüpft sind; die Freudschen Untersuchungen hingegen sind mit psychischen Problemen verknüpft, die mit den Krisen der Moderne zu tun haben. Die gründliche Bearbeitung dieser historischen Differenz wäre eigentlich notwendig, aber sie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Nachfolgende Veröffentlichungen sollen dazu beitragen, dieses historische Defizit zu reduzieren, das aber, aufgrund der folgenden Überlegungen, nicht überschätzt zu werden braucht. Im Unbewussten ist die Symbolisierung um einige wesentliche Elemente zentriert. Die basalen Vorstellungen, die dort eine entscheidende Rolle spielen, haben mit der Erfahrung des Körpers zu tun, mit den Beziehungen zu Mutter, Vater und Geschwistern und denen zu Geburt, Liebe und Tod.' Diese Kernelemente des Psychischen spielen in jeder menschlichen Seele, in jeder menschlichen Kultur eine entscheidende Rolle. Im Unterschiedlichen wirkt - in verschiedener Gestalt - Gleiches. Dass die biblischen Texte, ebenso wie die Texte der Psychoanalyse, mit diesen Kernelementen verknüpft sind, erlaubt es, sie legitimerweise aufeinander zu beziehen.

Eine psychoanalytische Bibelinterpretation wirft mancherlei methodische Probleme auf. Es lässt sich für die Bibel kein Textproduzent ausmachen, der psychoanalytische Deutung akzeptieren und ablehnen kann und so, wie der Patient auf der Couch, mit dazu beitragen kann, den geheimen Wahrheitsgehalt einer Äußerung aufzudecken. Im Rahmen der therapeutischen Praxis der Psychoanalyse spielt die Gegenübertragung des Analytikers, mit der er auf die Äußerungen des Patienten reagiert, eine zentrale Rolle. Die Phantasien und Gefühle, die der Patient beim Analytiker auslöst, sollen Hinweise auf das Unbewusste des Patienten geben. Indem der Analytiker sich mit diesen auseinandersetzt, kann er einen Zugang zu den dem Patienten verborgenen seelischen Problemen gewinnen. In einer trotz aller Unterschiede verwandten Art geht in eine psychoanalytische Interpretation der Bibeltexte das ein, was sie bei ihrem jeweiligen Leser und Interpreten an Gefühlen, Phantasien oder theoretischen Gedanken der verschiedensten Art auslösen. Damit verschafft sich bei jeder Bibelinterpretation ein subjektives Element Geltung, das von der Person des Autors abhängig ist. Was bei diesem an Einfällen zum Text auftaucht, kann dadurch bearbeitet werden, dass es zu nicht auf die Religion bezogenen theoretischen Konstruktionen aus dem Bereich der Psychoanalyse und Einsichten von bereits vorhandenen Texten zur Psychoanalyse der Religion in Beziehung gesetzt wird. Psychoanalytisch aufgearbeitete Erfahrungen können darüber hinaus mit Befunden aus verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften konfrontiert werden. Durch ein solches Vorgehen kann im Text etwas Allgemeines gefunden werden, was über die Subjektivität des Autors hinausweist, aber immer auch bereits in ihr enthalten ist. Trotz allem Bemühen um Objektivität bleibt die Interpretation, auch wenn sie wissenschaftlich ausfällt, immer an die Subjektivität des Autors gebunden. Mit ihr sind auch die spekulativen Züge verknüpft, ohne die eine Arbeit - wie diese - nicht auskommen kann und will. Eine psychoanalytische Textinterpretation soll nichts im streng naturwissenschaftlichen Sinne beweisen. Außerdem wäre die Exaktheit von psychologischen Einsichten jeglicher Art immer nur ein methodisch produzierter Schein. Wer allein streng abgesichertes psychologisches Wissen vorführen will, produziert damit womöglich nur Langeweile. Das fundierte Wissen eines Autors und die Art, wie er es vorträgt, sollten die Plausibilität der Ergebnisse von psychoanalytischen Untersuchungen gegenüber dem bloßen Meinen und Behaupten entscheidend erhöhen. Aber diese zeigen ihre Qualität nicht allein durch möglichst weitgehend begründete Feststellungen, sondern auch dadurch, dass sie ihre Leser irritieren und zum phantasievollen Nach- und Weiterdenken provozieren.

Da die Subjektivität ihres Produzenten die in diesem Buch vorgetragenen theoretischen Einsichten beeinflusst hat, scheint es nötig darauf hinzuweisen, dass er keine religiöse Erziehung im engeren Sinn erfahren hat. Ich war nie Mitglied einer Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft. Meine kirchlich gelenkte religiöse Unterweisung beschränkte sich auf evangelischen Religionsunterricht während der gesamten Schulzeit, der im wesentlichen aus Bibelkunde bestand. Man kann behaupten, dass eine solche Voraussetzung den Zugang zu religiösen Texten erschwert, sie scheint mir aber zumindest die kritische Distanz, die für ihre wissenschaftliche Analyse notwendig ist, sehr zu erleichtern. Da, wie dieses Buch aufzeigen soll, religiöse Erfahrungen mit bestimmten Kindheitserfahrungen eng verbunden sind, die auch der Autor durchgemacht hat, muss ihm das, was als religiöses Erleben erscheint, auch ohne kirchliche Prägungen keineswegs allzu fremd sein. Die Position des Außenstehenden kann es nicht nur erleichtern, klärenden Abstand zu gewinnen, sie kann sogar ein Interesse an der Religion wecken, das weit über das hinausreicht, was diejenigen Christen auszeichnet, die ihrer Kirche vor allem aus konventionellen Gründen angehören. Wer in dem kleinstädtischen protestantischen Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, nicht kirchlich gebunden war, konnte als Kind oder Jugendlicher auch die Erfahrung eines von der Religion Ausgeschlossenseins machen, die zu einer intensiven Beschäftigung mit ihr drängen kann. Nach der Adoleszenz haben mich religiöse Fragen kaum noch interessiert, bis ich auf der Couch eines Analytikers damit konfrontiert wurde, dass sich auch bei mir gelöste und ungelöste seelische Probleme mit vielerlei religiösen Bildern verknüpften. Diese Erfahrung hat bei mir keinen Hang zur Frömmigkeit, wohl aber das Interesse daran geweckt, der Religion wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Dies nicht zuletzt auch, um die der christlichen Religion nachfolgenden Formen des berechtigten Hoffens und des illusionären Glaubens besser verstehen zu können.

Zum Schluss dieser Einleitung eine Bemerkung für diejenigen Christen, denen dieses Buch möglicherweise zum Ärgernis werden könnte. Wer es respektlos, widersinnig oder gar obszön findet, dass das Heilige in diesem Buch nicht nur zu zerstörerischer Gewalt, sondern sogar zu den abstoßenden Geheimnissen des Sexuellen in Beziehung gebracht wird, sollte bedenken, dass die Psychoanalyse mit dem Christentum den Anspruch teilt, der Überwindung des Zerstörerischen im Menschen durch die Ausbreitung der Liebe unter den Menschen dienen zu wollen. Sie geht allerdings davon aus, dass die Liebe immer mit dem Eros verbunden ist und dass sie auch in den anstößigsten Formen des Sexuellen zur Geltung kommt. Wer die Liebe freisetzen will, muss sich mit allen ihren Erscheinungsformen auseinandersetzen.

Auszüge*

„Jesus und seine Lehre hatten im Bewußtsein früherer europäischer Generationen eine immense Bedeutung, die auch noch im heutigen nachchristlichen Bewußtsein fortwirkt. Ihr psychoanalytisches Verständnis erlaubt deshalb einen Zugang zu den Tiefendimensionen der okzidentalen Kultur. Man kann die Jesusfigur, in einer religionskritischen psychoanalytischen Perspektive, als ein Symptom verstehen, dessen unbewußte Wurzeln die sozialpsychologischen Geheimnisse dieser Kultur enthalten. Jesus symbolisiert auf verschlüsselte Art eine geheime psychologische Wahrheit des Abendlandes, die es zu enthüllen gilt.“  (S. 9)
„Der Macht von Wünschen, die Freud im Bereich der Religion am Werk sieht, ist auch die Wissenschaft keineswegs völlig entronnen. Dies zu ihrem Nachteil, aber keineswegs nur zu ihrem Nachteil: Es gilt noch Potentiale der Religion, die Freud aus der Wissenschaft verbannen wollte, für das kritische Denken nutzbar zu machen.“ (S. 12)
„Wenn Jesus mit Ödipus verwandt ist, muß die Kreuzigung, die in den Christen wirkt, wesentliche Elemente dessen zum Ausdruck bringen, was der verdrängte Ödipuskomplex zum Inhalt hat.
Jesus opfert seinen fleischlichen Leib am Kreuz aus Gehorsam und Liebe gegenüber seinem himmlischen Vater. Durch das Opfer seines Fleisches kann er an Gottes Macht teilhaben: Er opfert seinen menschlichen Teil, um zu Gott, seinem Herrn aufzusteigen, der das Gesetz ist. Diesem Opfer des Fleisches kann nach einiger Zeit die Wiederauferstehung des Fleisches folgen. Das christliche Heilsgeschehen ist an den Tod und die Wiederauferstehung des Leibes gebunden, die der Mensch in der Nachfolge Jesu suchen kann. Das ödipale Drama zeigt eine verwandte Logik. Der ödipale Konflikt endet mit der schmerzlichen Unterwerfung des Sohnes unter das Gesetz, das der Vater repräsentiert. Er unterwirft sich dem Zwang, den der Vater auferlegt. Es ist ein Vater, welchen er fürchtet und zugleich liebt und mit dem er sich durch Identifikationsprozesse, die zur Aufrichtung des Über-Ichs führen, in eins setzen kann, wenn er sich seinem Willen fügt. Das schmerzliche ödipale Schicksal verlangt das Opfer der kindlichen Sexualität, die den lebendigen kindlichen Leib repräsentiert. Die Sexualität und die mit ihr verbundene Erfahrung der Leiblichkeit müssen untergehen, bis sie nach der Latenzzeit, mit der Pubertät, wieder in anderer Gestalt auferstehen kann. Der "Tod" des kindlichen "Fleisches" wird wieder aufgehoben, wenn der Sohn mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät, die seine Sexualität wieder auferstehen lassen, den Übergang zur Erwachsenheit erreicht, der damit enden kann, daß er dem Vater durch die Identifikation mit ihm als sexuelles Wesen gleichgestellt wird. Liebe, Gehorsam, Opfer, Tod und Auferstehung des Leibes sind im biblischen Geschehen ebenso miteinander verbunden wie im konflikthaften Drama der Kindheit und Jugend, das "Tod" und "Auferstehung" des leiblichen Begehrens zum Inhalt hat. Die um die Bearbeitung des Opfers zentrierte christliche Religion bringt zum Ausdruck, daß die Subjektwerdung des Menschen an schmerzliche Opfer gebunden ist.“ (S. 119f)
„Wer sich, wie das Christentum, nach einer anderen Welt sehnt und deshalb die bestehende patriarchalische, von machtvollen Männern beherrschte Welt verneinen muß, wird notgedrungen bewußt oder unbewußt bei einer Welt des Mütterlichen Zuflucht suchen.“ (S. 148)
„Wer ganz auf jeden Glauben an ein anderes außerhalb oder innerhalb dieser Welt verzichten will, landet leicht beim illusionären Glauben an die unabänderliche Macht oder Sinnhaftigkeit des Bestehenden. Die "Realisten" ähneln Frommen, sie verleihen dem Existierenden eine Art Gottgegebenheit, der man sich gläubig zu fügen hat.“ (S. 270)
„Wer allzu nüchtern sein möchte, verleugnet auf illusionäre Art die Macht des Wünschens. (S. 271)“
„Die Misere unserer Zeit verdoppelt sich in einem trostlosen Blick, dem die Wahrnehmung der Möglichkeitsräume des anderen, die diese Welt in sich trägt, verschlossen bleibt. Wie können wir die Angst überwinden, die uns nicht sehen läßt?“ (S. 274)

*Die hier wiedergegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Buch-Fassung des Textes. In der um einige Abschnitte erweiterten PDF-Manuskriptfassung gilt eine abweichende Zählung.