Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Wider den Drang zum Nationalen

Gekürzt veröffentlicht in der "Frankfurter Rundschau", 23.04.1994
Seit der deutschen Wiedervereinigung leben mehr Deutsche in einem Staat, die sich über vernünftige Formen des Zusammenlebens Gedanken machen müssen. Dieses Nachdenken verlangt die Auseinandersetzung mit der Geschichte, die sie auf verwandte und unterschiedliche Art geprägt hat. Bei Nietzsche heißt es: "Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennenzulernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts, als das, war wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. (1) Unsere Geschichte hat teilweise mit Traditionen zu tun, die sich als deutsch bezeichnen lassen. Seit 200 Jahren ist sie mit der Idee des Nationalen verknüpft. Menschen sind soziale Wesen, sie können nur als Mitglieder sozialer Gruppen existieren. Als solche identifizieren sie sich bewußt und unbewußt mit diesen Gruppen, ihnen verdanken sie ihre soziale Identität. Wer in einem deutschen Staat lebt, hat notwendig positive und negative Identifikationen mit den Deutschen und ihrer Geschichte, die diesem Staat angehören. Daraus schließen viele, daß wir hierzulande endlich wieder eine "normale" Einstellung zum Nationalen erlangen sollten, wie sie etwa Franzosen, Amerikanern oder Polen eigentümlich sein soll. Mir scheint das nicht nur wegen der Besonderheiten der deutschen Geschichte falsch zu sein, sondern auch wegen der Orientierung an einer Normalität, die allzu viele problematische Züge trägt. Der folgende Text, der eine Verknüpfung der Darstellung von persönlichen, lebensgeschichtlichen Erfahrungen und sozialwissenschaftlichen Einsichten versucht, möchte das aufzeigen.

I.

Vor einiger Zeit sah ich im Fernsehen eine Nachrichtensendung. Sie informierte darüber, daß deutsche Staatsbürger, die darüber hinaus Menschen sind, die sich mit besonderer Leidenschaft als Deutsche bezeichnen, unmenschliche Gewalt gegen türkische Ausländer ausgeübt haben, die man nicht mehr wirklich als Ausländer bezeichnen kann, weil sie schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Daneben enthielt diese Nachrichtensendung Hinweise auf Befunde des "Waldschadensberichts". Dieser meldet extreme Waldschäden in deutschen Wäldern, die den Biotop Wald in seiner Existenz bedrohen. Die Deutschen sollen eine besondere Beziehung zum Wald haben. Elias Cannetti schreibt in seinem Buch "Masse und Macht" über kollektive Massensymbole: "Der Engländer sah sich gern auf dem Meer; der Deutsche sah sich gern im Wald. In keinem modernen Land ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland" (2) Worte wie Waldeinsamkeit oder Waldeslust gibt es nur in der deutschen Sprache. Bei Eichendorff heißt es sehr deutsch, auf fast religiöse Art:

"Oh Täler weit, oh Höhen,
Oh schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt."
Der deutsche Wald hat nicht nur mit der deutschen Romantik zu tun, mit einer traumatisierenden Industrialisierung, die zur Flucht in die Natur drängte. Cannetti zufolge ist er insgeheim auch mit dem deutschen Heer verwandt. "Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und Zahl erfüllt das Herz der Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude." (3) Der frühe Thomas Mann, der sich noch nicht zum Demokraten gewandelt hatte, verband das deutsche Wesen mit "machtgeschützter Innerlichkeit". Innen die Waldeinsamkeit, die deutschen Mütter und die deutschen Dichter, außen das deutsche Heer, als gepanzerter Wall, der dieses Innere gegen bedrohliche Fremde schützt.

Nach der Nachrichtensendung, die über deutsche Rechtsradikale und das Waldsterben in Deutschland berichtete, war auf einem anderen Sender eine Sendung mit viel Zuschauerresonanz zu sehen. In ihr stritten sich zwei Parteien über die Frage: "Sollen wir stolz darauf sein, Deutsche zu sein"? Die Mehrheit des Publikums im Fernsehstudio bejahte mit einer streitenden Partei diese Frage, weil wir Deutsche doch wirtschaftlich etwas geleistet hätten, weil wir hier eine Demokratie hätten und weil die meisten Deutschen doch anständige Leute seien. Ein deutscher Sinti der Gegenpartei fand diese Einstellung unsinnig, weil man vernünftigerweise doch nur auf das stolz sein könne, was man selbst geleistet habe. Ein Mann aus dem Publikum gab dem Sinti zu bedenken: Die Zigeuner könnten doch stolz auf die schöne Musik sein, die sie machen. Der Sinti: Er spiele leider kein Instrument. Man konnte merken, wie die Abneigung gegen ihn, die keineswegs nur mit seiner Meinungsäußerung zu tun hatte, beim Publikum im Fernsehstudio spürbar anwuchs. Nicht nur die Mehrheit im Fernsehstudio oder Anhänger der deutschen Rechten, sondern auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft oder ein Beraterstab der IG Metall und viele andere, die sich wohl eher der Linken zurechnen, wollen zu dieser Zeit endlich wieder stolz darauf sein, Deutsche zu sein. Dies angeblich, um den Rechtsradikalen den Boden zu entziehen.

Die Fernsehsendung mit denen, die stolz darauf sein wollen, Deutsche zu sein, entlockte mir den spontanen Einfall: "Sind die verrückt geworden"!? Als psychoanalytisch orientierter Wissenschaftler habe ich gelernt, meine Einfälle ernst zu nehmen: Ich denke also darüber nach, was derartige Einstellungen mit Verrücktheit zu tun haben. Bei psychisch schwer gestörten Menschen lassen sich spezifische Beziehungen zu anderen Menschen, wie zur Realität insgesamt ausmachen. Diese Beziehungen zeichnen sich, den Einsichten der Psychoanalyse zufolge, beispielsweise durch sog. Spaltungsmechanismen aus: die Realitätsbezüge werden dergestalt aufgespalten, daß Gutes und Schlechtes, Liebenswertes und Hassenswertes, das in der Realität miteinander verknüpft ist, willkürlich auseinandergerissen wird. Das bedeutet zum Beispiel, daß andere Menschen entweder als großartig und liebenswert oder als minderwertig und bedrohlich erfahren werden. Die Frau eines Mannes mit derartigen Problematiken erscheint diesem je nach Situation entweder als wunderbare Frau oder als absolutes Scheusal. Widersprüche, Mischungen, Ambivalenzen darf es nicht geben, weil sie zu viel Unsicherheit und Angst hervorrufen. Wer stolz darauf sein will, Deutscher zu sein, muß zu derartigen Abspaltungen in der Lage sein, auch wenn sie oder er sonst ohne weitreichende seelische Defekte geblieben sein mag. Man muß das Gute, das es in deutschen Landen sicherlich auch gibt, willkürlich vom Schlechten abspalten, vom Waldsterben zum Beispiel oder den gewalttätigen Deutschen, die man mit Hilfe von Spaltungsmechanismen einfach nicht mehr zu den richtigen Deutschen rechnet. (Ähnlich problematische Einstellungen zeigen übrigens auch diejenigen, die alles Deutsche abstoßend finden, - außer an sich selbst und einigen wenigen Freunden.) Es gibt in Deutschland sicherlich schöne Landschaften und Menschen, mit liebenswerten Zügen, aber keineswegs nur, weil Deutsche in der Vergangenheit zwei Weltkriege angezettelt haben und die Vernichtung von Millionen Juden zu verantworten haben, sondern auch, weil es in der Gegenwart unter Deutschen Millionen Alkoholiker, die Einsamkeit unzähliger Alter oder das Elend alleinerziehender Mütter gibt, muß man ein merkwürdiges Verhältnis zu dieser Realität haben, wenn man stolz darauf sein will, Deutscher zu sein. Ein bei Anhängern des Nationalen sehr verbreitetes Verhältnis zur eigenen Kultur, das durch Abspaltungen und Verleugnungen geprägt ist, sollte nicht nur in Deutschland aufgrund besonderer historischer Erfahrungen Unbehagen hervorrufen. Wollen die Amerikaner, die stolz darauf sind, Amerikaner zu sein, nur auf demokratische amerikanische Traditionen stolz sein oder auch auf die Ausrottung der Indianer oder die Verrohung in den Slums der Großstädte? Darf der Türke, der stolz darauf ist, Türke zu sein, nur auf eine beeindruckende kulturelle Tradition oder eine in der Türkei verbreitete Gastfreundschaft stolz sein, oder soll sich sein Stolz auch auf die Ermordung unzähliger Armenier unter Atatürk oder die Mißhandlung von Kurden in der Gegenwart beziehen? Ist der Franzose, der stolz darauf ist, Franzose zu sein, nur auf die Errungenschaften der französischen Revolution stolz oder auch auf die Gewalt, die Franzosen Algeriern während des Kampfes um ihre Unabhängigkeit angetan haben? Alle diese Formen des Stolzes können doch wohl nur dadurch zustande kommen, daß sie auch bei denen, die nicht als psychiatrische Fälle etikettiert werden können, mit "wahnhaften" Abspaltungen verknüpft sind. Sigmund Freud forderte nach dem ersten Weltkrieg, daß wir als aufgeklärte Menschen akzeptieren sollten: "daß wir von einer unendlichen langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust im Blute lag". (4) Wer stolz auf irgendeine nationale Tradition sein will, ist demnach, ob gewollt oder ungewollt, immer auch stolz darauf, mit Gewalttätern verwandt zu sein.

II.

In den vergangenen Monaten habe ich als Referent an vielen Diskussionen über Ausländerfeindlichkeit teilgenommen. Wenn Ausländer sich an derartigen Diskussionen beteiligt haben, habe ich häufig eine Feststellung gemacht, die man mir hoffentlich nicht als Ausländerfeindlichkeit auslegen wird. Wenn nicht Deutsche als Vertreter eines nationalen Kollektivs auftreten, fällt das, was sie über "die Deutschen" sagen, meist so stereotyp und klischeehaft aus, wie wenn Menschen, die sich mit Nachdruck als Deutsche darstellen, über die Türken, die Russen oder die Amerikaner reden. Umgekehrt gilt zugleich: Je mehr jemand als Individuum spricht, je weniger sie oder er bloß als Repräsentant eines nationalen Kollektivs auftritt, desto sachhaltiger werden üblicherweise bei Ausländern und Deutschen die inhaltlichen Äußerungen. Vergleicht man zum Beispiel die typischen Äußerungen von Türken, die stolz darauf sind, Türken zu sein mit Äußerungen von Türken, die nicht stolz darauf sind, Türken zu sein, aber auch nicht wie die Deutschen hier sein wollen, kann man das leicht feststellen. Die Grenzgänger, denen es angeblich an einer notwendigen Verwurzelung in einer nationalen Identität mangeln soll, sind üblicherweise zu sehr viel präziseren Aussagen über die Beziehungen von Menschen in einer Kultur oder zwischen verschiedenen Kulturen in der Lage. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß sich eine gefestigte nationale Identität meist umgekehrt proportional zu einer Ich-Autonomie verhält, die kritisches Denken als seine Basis benötigt.

III.

Während einer Auslandsreise wäre es mir in Argentinien, trotz meiner Skepsis gegenüber dem Nationalen, fast gelungen, eine nationale Identität als etwas Positives zu erfahren. In einem Urwaldgebiet Nordargentiniens ängstigten mich einige mir sehr fremdartig erscheinende Menschen, die auf einem einsamen Pfad in einiger Entfernung hinter mir hergingen - bis ich auf einen Menschen traf, der mich auf deutsch anredete. Er sprach ein Deutsch mit pommerscher Färbung, das aus einer Epoche stammte, die den Redenden einen viel langsameren Sprechrhythmus als heute und rührend altmodische sprachliche Wendungen erlaubt hat. Das miteinander Sprechen gab dem Gefühl Raum, als Deutscher in der Fremde bei Deutschen zu Hause sein zu können. Der Kontakt mit deutschen Auswanderern im fremden Argentinien brachte mich dazu, über ein Forschungsprojekt nachzudenken, das sich mit dem Identitätswandel verschiedener Gruppen von Deutschen auseinandersetzen sollte, die nach Argentinien ausgewandert sind. Ich hätte gerne herausgefunden, wie linke oder rechte Deutsche, wie deutsche Juden oder deutsche Nazis in Argentinien ihre Vergangenheit untergebracht haben. Habe ich im fernen Argentinien meine deutsche Identität gefunden? Auch die nationale Identität der Argentinier schien mir einige Vorzüge zu bieten. Argentinier russischer, italienischer, polnischer oder deutscher Abstammung schienen mir als Argentinier ganz gut miteinander auszukommen. Andere Aspekte der nationalen Identität der Argentinier haben freilich meine Versöhnung mit dem Nationalen verhindert. Argentinische Landkarten bleiben meist weiß, wo man etwa chilenisches Gelände erwartet. Das Territorium eines traditionellen nationalen "Erbfeindes" soll wohl nicht besonders beachtet werden. Die Militärs wären in Argentinien wahrscheinlich noch heute an der Macht, wenn sie den Falkland-Krieg gewonnen hätten und damit für die Mehrheit der Argentinier eine "nationale Schmach" getilgt hätten. Eine winzige Inselgruppe im Atlantik, die kaum jemand in Argentinien für sein Überleben braucht, weil ihre Beschaffenheit der des unendlich weiten, menschenleeren Südens von Argentinien entspricht, kann nur in einer Kultur eine überragende psychische Bedeutung erlangen, in der eine soziale Misere die nationale Begeisterung als Symptom hervorbringt.

IV.

Mein Verhältnis zum Nationalen ist durch meine Lebensgeschichte bestimmt, die in eine bestimmte Epoche der deutschen Geschichte eingelagert ist. Daß ich lieber anderem als dem Nationalen meine Emotionen zuwende, ist eine Konsequenz meiner Biographie. Mit Elias Cannetti habe ich darauf hingewiesen, daß die deutsche Identität etwas mit dem deutschen Heer zu tun hat. Deutsche Männlichkeit war traditionell mit dem Soldatischen verknüpft und das wurde nicht nur von Männern als positiv erfahren. Bis zum Dritten Reich war es für viele junge deutsche Frauen, vor allem aus den mittleren und höheren Schichten, ein Wunschtraum, einen Offizier als Mann zu ergattern. Auch meine Identität und meine Männlichkeit sind mit dem deutschen Heer verknüpft. Wer, wie ich, 1940 geboren wurde, dessen frühe Kindheit, in der sich viel Prägendes in die Psyche einschreibt, ist mit dem Kriege verknüpft. Die ersten fünf Jahre meines Lebens war Kriegszeit, danach war Nachkriegszeit im Schatten eines Krieges, der als verloren erfahren wurde. Eine meiner frühesten Erinnerungen bezieht sich auf das Ausschneiden von Soldatenbildern aus Zeitungen, die wir in Zigarrenschachteln anhäuften. Besonders beliebt waren dabei Ritterkreuzträger, denen eine besondere Verehrung galt. Wir spielten als kleine Jungen Soldaten, weil wir wie unsere Väter sein wollten, die wir als Helden in der Fremde wähnten. Wir wollten tapfere Krieger sein, um unsere Mütter gegen das Böse verteidigen zu können. Gegen Ende des Krieges landeten die kleinen deutschen Soldaten in den Luftschutzkellern brennender Häuser, Sirenen vor Luftangriffen verbreiteten bei ihnen eine entsetzliche Angst. Die schlimmen Seiten des Militärischen wirkten auf uns Kinder auf traumatische Art ein. Die Nachkriegszeit machte die Schuld von Eltern sichtbar, mit denen wir uns stolz identifiziert hatten. Wer sich als Kind notgedrungen auch mit Eltern identifizieren muß, die Schlimmes angerichtet haben und dafür mit einer schmerzlichen militärischen Niederlage büßen mußten, introjiziert mit ihnen notwendig bewußte oder unbewußte Formen des Selbsthasses, die die Identitätsfindung schwierig gestalten.

Eine frühe, mit den militärischen gekoppelte deutsche Identität hielt sich bei mir noch in der Nachkriegszeit. Als Erstklässler war ich mit einem Freund darin einig, daß die Deutschen zwar zu Recht den Krieg verloren hätten, weil sie Schlimmes verbrochen hätten, aber daß sie trotzdem die tapfersten Soldaten der Welt seien. Danach bestimmte das Militärische eine deutsche Identität mit umgekehrten Vorzeichen. In den fünfziger Jahren hatte ich durchaus noch eine ausgeprägte deutsche Identität, aber sie war nun, wie die meiner Eltern, aufgrund der Kriegserfahrungen pazifistisch und sozialdemokratisch ausgerichtet. Einer breiten politischen Strömung entsprechend, setzten damals viele auf ein im kalten Krieg neutrales, gutes, friedfertiges Deutschland, in Kontrast zum vorherigen schlimmen, militaristischen Deutschland. Der sozialdemokratische Parteivorsitzende Schumacher beschimpfte in der Nachkriegszeit Adenauer als Kanzler der Alliierten, weil dieser die deutsche Wiedervereinigung zugunsten der Westintegration Deutschlands verraten habe. Die SPD war damals nicht nur aufgrund der Kriegserfahrungen pazifistisch, sondern auch, weil sie der Ansicht war, daß eine militärische Integration in ein westliches Bündnis die Wiedervereinigung blockiere. Mein Wunsch, ein guter Deutscher zu sein, brachte es mit sich, daß ich mich in den fünfziger Jahren für die Wiedervereinigung engagierte. Einige Male bin ich zusammen mit anderen an die Zonengrenze marschiert, um an die Deutschen drüben zu denken. Ich habe Kerzen ins Fenster gestellt, die helfen sollten, das Brandenburger Tor zu öffnen. Als Jugendlicher bin ich öfter in die DDR gereist, um den Kontakt zu den anderen Deutschen zu halten.

Die starke emotionale Besetzung des Nationalen, das Bedürfnis eine nationale Identität als Deutscher zu haben, zerfiel erst in den sechziger Jahren unter dem Einfluß "wurzelloser Juden". Vor allem meine Lehrer von der "Frankfurter Schule" waren daran beteiligt. Adorno, für den zwischen Nationalismus und einem "gesunden" nationalen Empfinden kein Unterschied auszumachen war, prägte ein Denken, das später unter dem Einfluß der Studentenbewegung auf internationale Solidarität aus sein wollte. An der Universität habe ich gelernt, daß nicht nur deutsche Juden, die keine nationale Identität haben wollten, einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Kultur geleistet haben. Die meisten Menschen, die als "große Deutsche" gelten, legten keineswegs besonderen Wert darauf, Deutsche zu sein. Kant wollte dazu beitragen, Menschen zu autonomen Individuen und zugleich zu "Weltbürgern" zu erziehen. Erziehung sollte für ihn keineswegs in deutscher sondern immer in "weltbürgerlicher Absicht" erfolgen. Sein berühmter "kategorischer Imperativ" gebietet, daß die Maximen, die das eigene Handeln leiten, als Maximen für das Handeln aller Menschen taugen sollen. Das eigene Denken und Tun soll sich also immer auf alle Menschen beziehen und niemals bloß auf die Deutschen. Goethe wollte "Weltbürger" sein; er wollte ein reiches Subjekt dadurch werden, daß er auf seine besondere Art möglichst viel Welt ohne nationale Begrenzungen in sich aufnahm. Dieses Ideal teilte er mit dem "großen deutschen" Universitätsgründer Humboldt. Für diesen galt: "Einen Menschen beurteilen, heißt nichts anderes, als fragen, welchen Inhalt er der Form der Menschheit zu geben gewußt hat." (5) Für ihn war die Aufgabe aller Bildung, "der Menschheit in unserer Person einen so großen Inhalt wie möglich zu verschaffen". (6) Vom Deutschen als Bildungsziel ist dabei kaum die Rede. Der "große deutsche" Komponist Beethoven wollte mit seiner Musik nicht zuletzt den Idealen der französischen Revolution und der bürgerlichen Aufklärung einen musikalischen Ausdruck verleihen. Seine Neunte Sinfonie versucht im Schlußsatz die Darstellung der großen bürgerlichen Menschheitsutopie: Alle Menschen sollen Brüder werden. (Daß dabei etwas mit den Schwestern nicht stimmt, ist inzwischen oft bemerkt worden.) Am Schicksal der Neunten Sinfonie lassen sich Paradoxien der Geschichte deutlich machen. Im Dritten Reich wurde sie zum Geburtstag des Führers unter Leitung der prominentesten deutschen Dirigenten aufgeführt. Nicht mehr alle Menschen sollten Brüder werden, sondern nur, unter der Regie des Führers, alle Deutschen, unter Ausschluß der Linken und der Juden. Heute hat es der Schlußsatz der Neunten Sinfonie dazu gebracht, "Europahymne" zu werden. Immer noch nicht alle Menschen, aber wenigstens alle Europäer sollen jetzt im Interesse einer europäischen Großmachtpolitik Brüder werden. Diejenigen, die seit der deutschen Wiedervereinigung eine deutsche Identität suchen, die sich auf demokratische Bewegungen beziehen kann, die von Deutschen getragen wurden, vergessen zumeist, daß diese Bewegungen niemals allein deutsche, sondern immer internationale Bewegungen waren. Der europäischen Aufklärung, die Arbeiterbewegung, die Studentenbewegung, die Frauenbewegung oder andere Bewegungen, die die Demokratie vorangebracht haben, waren oder sind internationale Bewegungen. Sie stehen, auch wenn sie sicherlich Ausprägungen erhalten haben, die auch mit nationalen kulturellen Traditionen verknüpft sind, für Weltbürgerlichkeit und internationale Solidarität. Ihre führenden deutschen Vertreter waren kaum jemals stolz darauf, Deutsche zu sein.

V.

Warum war ich früher engagiert darauf aus, eine Identität als Deutscher zu haben, warum schien es mir früher erstrebenswert, ein Nationalgefühl mit anderen zu teilen? Heute fallen mir dafür einige Gründe ein: Als verunsichertes, sozial entwurzeltes Arbeiterkind wollte ich mich durch die Identifikation mit einem attraktiven nationalen Kollektiv aufwerten. Als Jugendlicher hörte ich allzu gerne von Ausländern: "die Deutschen haben zwar im Krieg Schlimmes angerichtet, aber sie sind trotzdem eine große Kulturnation, mit ihrem Goethe und mit ihrem Beethoven". Der Psychoanalyse verdanke ich die Einsicht, daß das Verhältnis zum Fremden verschiedenster Art entscheidend vom Verhältnis zum anderen Geschlecht abhängig ist. Daß mir die Annäherung ans fremde andere Geschlecht Schwierigkeiten bereitete, übertrug sich wohl auf soziale Einstellungen, die aus Angst vor dem Fremden in anderen Ländern und Kulturen das Eigene besonders hochhalten wollten. Entscheidend war aber wohl, daß ich es schon als Jugendlicher nicht gut fand, wenn eine Gesellschaft allein vom Geld und von politischer Macht zusammengehalten wird. Ich wünschte soziale Zusammenhänge, die nicht allein von wirtschaftlichen Interessen gestiftet werden. Das Nationale verkörperte für mich ein Soziales, durch das eine über bornierte individuelle Interessen hinausgehende Solidarität gestiftet wird. Ich habe gelernt, daß das Nationale ein Phantasma ist, das kein Gesellschaftliches stiften kann, in dem die Interessen, Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen auf vernünftige Art aufgehoben werden können.

VI.

Nicht nur eine spezifisch deutsche Lebensgeschichte auch die theoretische Vernunft kann lehren, daß die Orientierung am Nationalen schon immer irrationale Züge trug und heute mehr denn je trägt. Die Idee des Nationalen und das Konzept des Nationalstaates sind kaum mehr als 200 Jahre alt. Noch 1820 konstatierte der Philosoph Hegel: "Wenn man in den einzelnen deutschen Ländern nachfragt, ob die Bürger und Bauern alle zu einem Deutschland gehören wollen, so wird diese Frage von den meisten gar nicht verstanden werden". (7) Man sah sich damals, etwa in der Differenz zu Franzosen oder Engländern, als Deutscher, aber eine politische Bedeutung hatte dies kaum. Zuerst war man Preuße, Bayer, Württemberger oder Sachse; der Patriotismus war an die Fürsten der Territorialstaaten gebunden. Wenn Schiller und Goethe sich in ihrem Briefwechsel über Schillers Vaterland äußern, meinen sie damit Württemberg und keineswegs Deutschland. Goethe hat als Sohn der freien Reichsstadt Frankfurt eine Vaterstadt aber kein Vaterland. Die Idee des Nationalen gewinnt an Bedeutung, wenn ein Bürgertum entsteht, das mit ihrer Hilfe seine sozialen Interessen durchsetzen will. Diese zielen zunächst auf einen kulturell relativ homogenen Wirtschaftsraum, mit einheitlicher Rechtsordnung, in dem sich ein nationaler Markt entfalten kann. Im Zeitalter des Imperialismus der Kolonialmächte verbindet sich das Interesse am Nationalen mit der Konkurrenz von im nationalstaatlichen Rahmen organisierten Ökonomien auf dem Weltmarkt. Es assoziiert sich mit dem Kampf um Weltmachtpositionen zur Ausbeutung von Kolonien. Deren Bevölkerungen müssen als kulturell minderwertig erscheinen, damit eine englische, französische oder deutsche "Mission" an ihnen vollzogen werden kann. Später verschafft sich die Idee des Nationalen im Widerstand der Kolonisierten gegen die koloniale Abhängigkeit Geltung. Seit der Kapitalismus den nationalstaatlichen Rahmen gesprengt hat, seit der Markt von multinationalen Konzernen beherrscht wird und wirtschaftliche Interessen jenseits des Nationalstaates, etwa in der EG, politisch organisiert werden, verliert das Nationale seine ökonomische Basis. Wir leben heute in einer durch den Weltmarkt gestifteten Weltkultur, die zwar auch nationale Traditionsbestände verwertet, aber im Wesentlichen international organisiert ist. Die Ökonomie, die Wissenschaft, die Technik, die Mode, die Musik, der Sport sind heute tendenziell international. Man kann die Dominanz des Internationalen selbst bei denen wahrnehmen, die sich besonders national und deutsch geben wollen. Rechtsradikale Skinheads orientieren sich in ihrem Outfit an einer englischen Unterschichtenkultur, sie tragen Jeans, die ursprünglich aus den USA stammten, prügeln mit amerikanischen Baseballschlägern, ihre Glatzen gleichen denen von amerikanischen Marinesoldaten, sie hören Musik, die sich an angelsächsischen Vorbildern orientiert. Die rechtsradikale Subkultur gehorcht also bewußtlos kulturellen Trends, die stark an einer international dominierenden angelsächsischen Kultur orientiert sind.

Es ist vernünftig, wenn demokratische Elemente nationaler politischer Traditionen heute dergestalt zur Geltung kommen, daß sie bereichernd in internationalen Tendenzen aufgehoben werden. Bei nationalen deutschen Traditionen ist das besonders schwer. Das Nationale verbindet sich in Frankreich mit der französischen Revolution: der "dritte Stand" konstituierte sich hier als Nation gegen den Adel, der als vaterlandslos gilt, weil er international "versippt" ist. In den USA ist das Nationale mit dem Unabhängigkeitskrieg verknüpft, also mit der Aufhebung des Kolonialstatus, der zur ersten bürgerlich demokratischen Verfassung führte. In Deutschland hingegen hat die nationale Bewegung ihren Ursprung vor allem im Kampf gegen die napoleonische Herrschaft, kaum aber im Kampf gegen den Absolutismus der deutschen Territorialstaaten. Die Fürsten und ihre Heere brauchte man im Kampf gegen die Franzosen. So nahm eine spezifisch deutsche Synthese von Nationalismus und Untertanengeist ihren Anfang, die später noch durch die nationale Vereinigung von oben verfestigt wird. Die nationale politische Tradition in Deutschland taugt kaum für die Bereicherung einer weltweiten demokratischen Kultur. Demokratische Elemente lassen sich in der deutschen Geschichte eher in regionalen Traditionen ausfindig machen, zum Beispiel in Baden oder im Rheinland oder in der Teilhabe an internationalen Bewegungen, etwa der internationalen Arbeiterbewegung.

VII.

Woraus zieht ein historisch weitgehend überholtes nationales Ideal seine Kraft? Sigmund Freud hat sichtbar gemacht, daß die Psyche der Menschen so an die Vergangenheit gefesselt ist, daß sie sich kaum auf der Höhe der Gegenwart halten kann. Frühere Fixierungen und aktuelle Belastungen, die zur Flucht vor der Gegenwart drängen, begünstigen kollektive Regressionen, die sich mit dem Nationalen verbinden. Diese rückwärtsgewandten Tendenzen werden durch Defizite in der Verfaßtheit des Gesellschaftlichen begünstigt.

Die westliche Form der Vergesellschaftung, die vor allem der Markt stiftet, macht die Menschen in einer arbeitsteiligen Ökonomie sehr stark voneinander abhängig - sie isoliert sie aber zugleich als Konkurrenten und Eigentümer, die ihre privaten Interessen vertreten, tendenziell voneinander. Das Gesellschaftliche, das die Wirtschaft stiftet, isoliert die Menschen immer auch voneinander. Diese Art der Vergesellschaftung begünstigt eine enorme gesellschaftliche Dynamik und zwingt die Menschen, vielfältige subjektive Möglichkeiten zu entwickeln, zugleich läßt sie aber das soziale Wesen der Menschen allzuleicht verkümmern. Gegen die Zerstörung des Sozialen in der Konkurrenzgesellschaft haben seit 200 Jahren vor allem zwei Bewegungen Front gemacht, die nationalistische und sozialistische, die auch fragwürdige Bindungen miteinander eingegangen sind. Das sozialistische Projekt zielte ursprünglich darauf, eine solidarische Gesellschaft hervorzubringen, in der die Entwicklung des Sozialen möglichst mit der Entwicklung der Einzelnen verbunden sein sollte. Durch die Niederlagen und Perversionen des Sozialismus hat der Nationalismus stets an Einfluß gewonnen. Besonders seit die sozialistische Bewegung mit dem Ende des "realexistierenden Sozialismus" an ein vorläufiges Ende gelangt zu sein scheint, hat das Nationale wieder Konjunktur. Solange keine demokratischen politischen Bewegungen geschichtsmächtig werden, die auf mehr Solidarität setzen und aus den Fehlern des Sozialismus gelernt haben, wird sich daran kaum etwas ändern.

Eine verstärkte Tendenz zum Nationalen ist in Deutschland und anderswo Ausdruck eines Wechsels im intellektuellen Klima. Das kritische linke, sozialwissenschaftlich orientierte Denken hat entscheidend an Einfluß verloren. In den vergangenen Jahrzehnten vertraten viele Intellektuelle die Position, daß die Demokratisierung der Gesellschaft vor allem eine vor uns liegende Aufgabe sei. Heute verteidigen dieselben Intellektuellen die Demokratie in Gestalt des Bestehenden. Dabei zeigen die demokratischen Organisationsformen des Politischen in unserer Gesellschaft erschreckende Zerfallstendenzen, die totalitäre Gegenkräfte begünstigen. Das verbreitete Schimpfen über "die Politiker" verdeckt eine tiefe Krise der bisherigen Art, Politik zu machen. Es spricht manches dafür, daß die vorhandenen politischen Strukturen es nicht erlaubten, die notwendigen intellektuellen Potenzen und sozialen Prozesse zur Lösung den anstehenden sozialen Probleme freizusetzen. Von den späten 60er Jahren bis in die 80er Jahre gaben sich dominierende Intellektuelle antikapitalistisch. Als Voraussetzung einer wirklichen Demokratie galt ihnen eine Demokratisierung der Wirtschaft, die mehr Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit zuläßt. Heute bemüht man sich darum, ja zu einer Marktwirtschaft zu sagen, die durchaus immer noch Kritik nötig hat. Auch diejenigen, die sie für die beste aller möglichen Wirtschaftsformen halten, sollten heute ihre gründliche Kritik fordern, um notwendige gesellschaftliche Reformmaßnahmen in Gang zu setzen. Politisches Handeln ist heute in einem Ausmaß ökonomischen Zwängen verfallen, das seine Gestaltungsspielräume extrem schrumpfen läßt. Der Bereich der Kultur wird immer mehr zum Anhängsel an die Firmenwerbung, was seine kritische Substanz aushöhlt: Die bürgerliche Gesellschaft zeigt hier die Tendenz in eine Art Industriefeudalismus zurückzufallen. In den Zentren des Kapitalismus gibt es neue Formen der Armut in einer "Zweidrittelgesellschaft". Niemand kann heute mit Sicherheit erfolgversprechende Rezepte zur Überwindung einer zunehmenden Massenarbeitslosigkeit anbieten. Eine fatale Gleichsetzung von "Freier Marktwirtschaft" und Demokratie, die das öffentliche Bewußtsein beherrscht, sorgt dafür, daß durch Krisen des Kapitalismus nahezu automatisch totalitäre Bewegungen hervorgebracht werden.

Verglichen mit dem, was heute im Weltmaßstab üblich ist, hat die bundesrepublikanische Demokratie sicherlich ihre positiven Seiten; die demokratischen sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte haben durchaus ihre Wirkungen hinterlassen. Trotzdem dürfte die bewusste Identifikation mit der hier herrschenden oft erbarmungslosen Konkurrenzgesellschaft oder einem als anonym erfahrbaren bürokratischen Verwaltungsstaat vielen schwerfallen. Das Bestehende wird bejaht, nicht unbedingt, weil es besondere Sympathien auf sich zieht, sondern weil keine besseren Alternativen vorhanden scheinen. Das scheinbar unausweichliche Arrangement mit bestehenden sozialen Mächten kann dadurch erleichtert werden, daß es als Identifikation mit einer nationalen Kultur interpretiert wird. Die Identifikation mit einem emotional aufladbaren nationalen Phantasma verschafft mehr psychischen Gewinn, als die Identifikation mit den realen gesellschaftlichen Mächten, die den Alltag bestimmen. Das nationale Phantasma verspricht mehr soziale Wärme und sozialen Zusammenhalt, ohne daß man am Bestehenden etwas ändern muß, ohne daß man sich vom Kampf um eine bessere Gesellschaft überfordert fühlen muß.

Der Nationalismus erlaubt die Flucht vor bedrohlichen sozialen Realitäten durch eine unbewußte Regression zu infantilen familiären Beziehungserfahrungen. Daß Menschen zu sozialen Wesen werden, daß sie kultur- und politikfähig werden, erfordert die Ablösung von frühen Bindungen an die Herkunftsfamilie. Wo diese mißlingt, kann es auf der politischen Ebene zum Nationalismus kommen, der unbewußt ein politisches Gemeinwesen mit einer Familie gleichsetzt und damit zugleich diejenigen auszugrenzen bestrebt ist, die nicht als Verwandte "zu uns" gehören. Schon in den 30er Jahren hat Wilhelm Reich in seiner "Massenpsychologie des Faschismus" aufgezeigt, daß Nationalismus mit ungelösten infantilen Bindungen verknüpft ist. "Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes, wie die Familie seine Nation im kleinen ist", heißt es dort. Das simplifizierende nationalistische Weltbild will die Komplexität ökonomischer und politischer Prozesse nicht zur Kenntnis nehmen. Es lädt stattdessen die Beziehungen zur sozialen Realität unbewußt mit familiären Leidenschaften aus der Kindheit auf, die kaum eine rationale Bearbeitung anstehender sozialer Probleme zulassen. Infantile soziale Bindungen und die ihnen entsprechende Realitätsbezüge, die das Nationale begünstigen, können da nicht überwunden werden, wo die Gesellschaft ihren Mitgliedern ein mündiges Erwachsensein verwehrt. Menschen bleiben vor allem da an sie fixiert, wo es ihnen verwehrt ist, ihr Schicksal selbst zu gestalten, wo sie stattdessen zur Gehorsamsbereitschaft und zu Bettelhaltungen gegenüber politischen und ökonomischen Mächten verurteilt sind. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche von der unpersönlichen Macht des Geldes regiert werden und sich Menschen immer mehr von bürokratisch strukturierten politischen Großorganisationen anonym verwaltet fühlen, neigen Menschen dazu, seelischen Halt im Nationalen zu suchen, das Gemeinschaftsgefühl und Wertbewußtsein gegenüber der gesellschaftlichen Kälte und Bedeutungslosigkeit verspricht. Wenn Demokratie bloß als Veranstaltung von Politikern erfahren wird, wenn sie einem unpersönlichen Verwaltungsstaat zugerechnet wird oder nur mit Wahlprozeduren gleichgesetzt wird, bei denen die eigene Stimme gegenüber unzähligen anderen kaum etwas gilt, ist es schwer, die Demokratie emotional zu besetzen. Die emotionalen Bedürfnisse, die dem Sozialen gelten, landen dann leicht bei nationalen Phantasmen, die mehr emotionale Aufladung zulassen. Die Überwindung von nationalen Fiktionen kann nur durch eine Demokratisierung der Gesellschaft zustande gebracht werden, die reichere soziale Beziehungen und Verhältnisse stiftet, die infantilisierenden Mächten die Basis entziehen.

VIII.

Aus der Idee der Nation läßt sich kein anderes Verhältnis zur Natur ableiten, das dieser und den Menschen eher gerecht wird. Eine menschenfreundlichere Organisation der Ökonomie, ein freierer Umgang der Geschlechter, eine notwendige Bildungsreform oder eine umweltschonendere Organisation des Verkehrs können in der bestehenden Weltgesellschaft kaum sinnvoll als nationales Problem behandelt werden. Das Bedürfnis nach emotional aufgeladenen nationalen Identitäten dient hier eher der Flucht vor der Bearbeitung derartiger Probleme. Wir sind als Deutsche sicherlich durch eine deutsche Geschichte geprägt. Sowie man aber versucht, aus dieser Geschichte positive Bestimmungen für ein deutsches Wesen abzuleiten, kann das nur zu problematischen Konsequenzen führen. Wir können aus der deutschen Geschichte lernen, wie problematisch es ist, eine soziale Identität haben zu wollen, die vor allem um das Nationale zentriert ist. Unsere soziale Identität, die sicherlich auch nationale Elemente enthält, wird durch unsere Geschlechterrolle, unsere Familienbindungen, unseren Beruf, unsere politischen Orientierungen und vieles andere bestimmt. Wenn das nationale Element einer sozialen Identität eine übergroße emotionale Aufladung erfährt, verweist das auf krisenhafte Potentiale der anderen Elemente. Es dient häufig dazu, Lücken in einem gestörten seelischen Haushalt zu füllen. Wir brauchen eine nationale Identität allenfalls als zu überwindende Durchgangsstufe für ein reiferes soziales Bewußtsein. Vielleicht ist die Identifikation mit nationalen Kollektiven unvermeidbar, solange es Nationalstaaten gibt. Aber wir sollten als erwachsene Menschen immer daran arbeiten, solche Beschränkungen zu überwinden, die einen offenen Zugang zur Welt hemmen. Unser Ziel sollte es nicht sein, mit Hilfe einer klaren nationalen Identität eindeutiger zu bestimmen, wer wir sind. Es ist viel wichtiger, daß wir den Mut aufbringen, uns fremd zu werden, um uns dadurch ändern zu können. Wir sollten versuchen, ohne falsche soziale Verwurzelungen zu leben und zu akzeptieren, daß in der bestehenden Welt niemand wirklich zu Hause sein kann, daß jeder in ihr mehr oder weniger Fremder sein muß. Nur dadurch können wir wahrscheinlich einen Beitrag dazu leisten, daß diese Welt etwas heimatlicher wird.


Anmerkungen

  1. F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band 223
  2. E. Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M. 1980, S. 190
  3. ebd.
  4. S. Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Freud Studienausgabe IX. Frankfurt/M. 1974, S. 56
  5. W. von Humboldt: Über den Geist der Menschheit. 1804
  6. W. von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. 1793
  7. G.F.W. Hegel: Philosophie des Rechts. 1819, 1820. Frankfurt/M. 1983, S. 230
  8. W. Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt/M. 1972, S. 103