Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Ein Gespenst geht um. Warum Adolf Hitler die Deutschen fasziniert.

Erschienen am 21.10.04. in "Die Wochenzeitung", Zürich

In Deutschland läuft zur Zeit mit enormer Aufmerksamkeit der Film „Der Untergang“ über Hitlers Ende in den Kinos; auch das Fernsehen, Zeitungen und Bücher zeigen ein verstärktes Interesse an Hitler. In dieses Interesse geht ein begrüßenswertes Bemühen um ein Verständnis des Dritten Reichs ein, aber es zeigt auch fragwürdige Züge, auf die im Folgenden hingewiesen werden soll.

Das Dritte Reich ist nicht wirklich vergangen, es wirkt bis heute fort - nicht zuletzt in der Psyche der Deutschen. Die Traumatisierungen, die der nationalsozialistische Terror und der Weltkrieg bei seinen Opfern bewirkt hat, werden in mancher Hinsicht an deren Nachkommen vererbt. Kinder und Enkel, die sich mit ihren Eltern oder Großeltern identifizieren, weil sie sie lieben oder von ihnen abhängig sind, erben damit, zumindest ein Stück weit, deren bewusste und unbewusste Schuldgefühle. Die Schuld, die Deutsche im Dritten Reich auf sich geladen haben, wird deshalb an nachfolgende Generationen weitergegeben, die, objektiv betrachtet, nicht schuldig sein können. Weil das Dritte Reich nicht wirklich vergangen ist, ist Adolf Hitler in gewisser Weise noch ein Zeitgenosse der heutigen Deutschen.

Im deutschen „Normalbewusstsein“ gilt Hitler als der letztlich für alle Verbrechen des Dritten Reichs Verantwortliche. Er erscheint als Tyrann, der das Deutsche Volk völlig seinem Willen unterworfen hat. Diese Bilder entsprechen nicht seiner wirklichen Rolle im Dritten Reich. Er war zwar im Dritten Reich formell der letztlich für alle politischen Entscheidungen Zuständige, in der Realität der Machtausübung kam aber vieles ohne seinen Einfluss zustande. Dies schon deshalb, weil Hitler vor dem Krieg zu faul war und im Krieg als oberster Feldherr kaum Zeit hatte, sich intensiv um Regierungsgeschäfte zu kümmern. Kein Diktator ist in der Lage, einen modernen Staat allein zu lenken, er kann immer nur als Repräsentant von sozialen Gruppen und Organisationen Einfluss erlangen. Entscheidungen wurden im Dritten Reich häufig in Bezug auf einen Führerwillen getroffen, der gar nicht von Hitler stammte oder so vage formuliert war, dass Entscheidungsspielräume offen blieben. Der Historiker Kershaw hat aufgezeigt, dass die Herrschaftsapparate des Dritten Reiches der Norm gehorchten: „Dem Führer entgegenarbeiten“. Dieses „Entgegenarbeiten“, als scheinbar bloßes Zuarbeiten, entwickelte aber häufig eine Eigendynamik, der sich Hitler bloß angepasst hat. Im Dritten Reich verschafften sich die Interessen der sozialen Gruppen Geltung, die den Nationalsozialisten zur Macht verholfen haben und die Funktionsprinzipien der Machtapparate des Staates, des Militärs oder der Partei legten Hitlers Möglichkeiten und Grenzen fest. Die Bedeutung Hitlers kann man nur Verstehen, wenn man seine Funktion in sozialen Strukturzusammenhängen begreift.

Dass Hitlers Einfluss im Dritten Reich weit überschätzt wird, hängt damit zusammen, dass seine reale Macht mit seiner sozialpsychologischen Bedeutung verwechselt wird. Letztere ist mit den Erfolgen der nationalsozialistischen Propaganda verknüpft, die um ein bestimmtes Führerbild zentriert war, an das Hitler selbst geglaubt hat und das er, als fähiger Agitator, für seine Anhänger zu repräsentieren verstand. Für die durch den verlorenen Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und das schlechte Funktionieren demokratischer Institutionen Verunsicherten und zugleich vordemokratisch an Autoritäten Gebundenen spielte Hitler die Rolle des allmächtigen Wunschführers, der die Verzweiflung seiner Anhänger kennt, ebenso wie die Mittel gegen sie. Hitler verdankte seinen Einfluss vor allem dem propagandistisch erzeugten Glauben von Massen an dieses Phantasma, er stand für deren bewusstes und vor allem unbewusstes Wünschen. Die Allmacht des Führerbildes war somit gewissermaßen der Macht des Kollektivs entsprungen, das ihm zu verfallen bereit war. Durch die kollektive Identifikation mit ihrem Führer vermochten sich seine Anhänger untereinander zu identifizieren, sie erlebten sich so als Teil eines machtvollen nationalen Kollektivs. Identifiziert mit der scheinbaren Allmacht ihres Führers durften sie eine gemeinsame narzisstische Himmelfahrt erleben. In den verblendeten Massen, die bereit waren, sich einem Führer zu unterwerfen und damit ihr Gewissen und die Realitätsprüfung an ihn abzutreten, konnte sich eine kollektivierte Wahnwelt Geltung verschafften, die der Nationalsozialismus mit einer brutalen kalkulierenden Machtpolitik verknüpfte.

Nach dem Krieg haben sich viele Deutsche darüber gewundert, dass sie einer merkwürdigen Figur wie Hitler verfallen konnten. Sie haben zumeist verleugnet, dass seine scheinbare Allmacht nicht zuletzt ein Produkt eigener Wünsche war, die sie mit der Realität verwechselt haben. Wo weiterhin nach scheinbar magischen Kräften Hitlers gesucht wird, wirkt noch die faschistische Propaganda und ein autoritätsfixiertes Potential fort, das ihr entgegenkam. Dass der Führerkult, auch bei denen, die nicht an ihn glauben, noch von Einfluss ist, hat auch mit seiner Funktion als Orientierungshilfe zu tun. Ein Mangel an theoretischem Denken, der es nicht erlaubt, die komplexen Strukturen einer modernen Gesellschaft zu durchschauen, drängt dazu, diese personalisierend zu interpretieren. Wo die unpersönlichen Funktionsprinzipien ökonomischer, staatlicher oder militärischer Machtapparate nicht verstanden werden, greift man zu Erklärungen die gesellschaftliche Erfolge oder Übelstände aus dem Charakter von Führerfiguren ableiten. Diese falsche Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse wird heute durch den Einfluss des Fernsehens besonders begünstigt. Zur Veranschaulichung von Politik präsentiert dieses ständig Bilder von Mächtigen; die Strukturen von Institutionen oder die Interessenlagen, die deren Handeln bestimmen, geraten dabei weitgehend aus dem Blickfeld.

Erklärungen, die die Machenschaften des Faschismus aus den Eigenschaften der Person Hitler ableiten, hatten oder haben für viele Deutsche seelische Vorteile, auch deshalb waren und sind sie beliebt. Wenn Hitler für alles haftbar gemacht wird, was im Dritten Reich geschah, gerät die Verantwortung von Industriellen, Militärs oder Lehrern aus dem Blickfeld. Nicht nur diejenigen, die vom Dritten Reich in großem Stil profitiert haben, auch die kleinen Mitläufer schoben und schieben gerne alles Schlimme des Faschismus auf Hitler: Das hilft, dem eigenen schlechten Gewissen zu entkommen.

Der mit allem Schrecklichen des Dritten Reichs gleichgesetzte Hitler wird zur Inkarnation des Bösen im 20. Jahrhundert. Er erlangt dadurch eine Art religiöse Bedeutung und tritt an die Stelle des Teufels christlicherer Epochen. Da aber das Teuflische insgeheim sehr faszinieren kann, wird Hitler leicht zu einer gruseligen Figur, auf die sich vieles projizieren lässt, was „anständige Menschen“ in der Gegenwart an sich selbst verleugnen müssen: Das Unheimliche, was Menschen an Hitler fasziniert, ist nicht zuletzt das Unheimliche ihres eigenen Unbewussten. Wo der Alltag als langweilig erfahren wird, kann die faszinierende Kraft des Bösen, das Kinofilmen und Fernsehsendungen viele Zuschauer verschafft, bei denen ein angenehmes Gruseln hervorrufen, die wissen, dass sie als Heutige nicht mehr zu den Opfern des Dritten Reichs gehören können.

Das verstärkte Interesse an der Hitlerfigur ist mit dem gegenwärtigen politischen und sozialen Klima in Deutschland verknüpft. Nach dem Ende ihres „Wirtschaftswunders“ zeigt die deutsche Gesellschaft massive Krisentendenzen, Verunsicherung macht sich breit, man fühlt sich wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen hilflos ausgeliefert. Diese Erfahrung von Vielen bringt narzisstische Kränkungen mit sich, die eine Wut aufladen, welche einen Ausdruck sucht. Die Erfahrung von Ohnmacht wird mit Hilfe von auf erfolgreiche Idole aus dem Schaugeschäft, der Wirtschaft oder der Politik übertragene eigene Größenphantasien abgewehrt. Anstatt einer Regierung, die der Krisen nicht Herr zu werden vermag, ersehnt man energischere politische Führerfiguren, die endlich wieder Ordnung schaffen. Die zunehmenden Niederlagen in den Rivalitätskonflikten des Alltags sind mit Erfahrungen des schuldhaften Versagens und der Beschämung verbunden. Das weckt ein Bedürfnis nach Sündenböcken, wie Ausländern oder Arbeitslosen, denen man eigene Schuld zuschieben oder wohin man eigene Schamgefühle abladen kann, indem man sie demütigt. Diese kollektiv verstärkt wirksamen psychischen Dispositionen, die der Faschismus einst politisch organisiert hat, können auch bei denen ein fragwürdiges Interesse an diesem wecken, die bewusst nicht mit ihm sympathisieren. Diese Einstellungen drängen heute zumeist nicht auf eine politische Wiederkehr des Faschismus, aber sie können ein Interesse an ihm erzeugen, das auf Erregung durch undurchschaute Identifikationen anstatt auf Begreifen aus ist. Wenn keine politischen Bewegungen auf den Plan treten, die aufgeklärte Alternativen zu in die Krise geratenen sozialen Verhältnisse präsentieren können, die sich mit den Wünschen von Vielen verknüpfen lassen, besteht aber die Gefahr, dass das, was heute eine verzerrte Beschäftigung mit dem Faschismus anregt, noch eine fatale politische Bedeutung erlangen kann. Das gilt keineswegs nur für Deutschland.