Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Illusionäre soziale Bindungen und Fußballsport / Fußballleidenschaft als eingefrorene Pubertät

- Vortrag auf der zusammen mit Prof. Dr. Johannes Beck durchgeführten Veranstaltung: "Fußballkult als Lebensersatz" am 21.06.06 an der Universität Bremen -

Liebe Freunde und Verächter des Fußballsports!

Vorbemerkung:

Mit den folgenden Äußerungen will ich mich keineswegs auf elitäre Art von Fußballfans distanzieren. Auch ich freue mich, als Bremer, wenn Werder Bremen ein Spiel gewinnt. Ich treibe selbst regelmäßig Sport, lese morgens den Sportteil der Zeitung und besuche ab und zu ein Fußballspiel im hiesigen Weserstadion. Das scheint es mir aber nicht zu rechtfertigen, dass man darüber den Verstand verliert und das kritische Nachdenken über den Fußballsport - besonders zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft - unterlässt. Die Aufklärung als Bemühen um Mündigkeit fordert nicht zuletzt das kritische Nachdenken über eigene Vorlieben und Interessen und deren unter Umständen fatale Folgen.

Die anschließenden, in einer sozialpsychologischen Perspektive entwickelten Thesen sollen ein weiteres Nachdenken anregen.

Illusionäre soziale Bindungen und Fußballsport

In der bestehenden westlichen Gesellschaft, die von einer wildgewordenen kapitalistischen Ökonomie beherrscht wird, werden die Menschen vor allem durch ökonomische Zwänge und Interessen, die mit der Macht des Geldes verbunden sind, zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden sie, trotz ihrer wachsenden Abhängigkeit voneinander, zugleich als Konkurrenten und als Privateigentümer, die ihre bornierten Eigeninteressen verfolgen, voneinander isoliert. Die vom Kapitalismus gestiftete Form der Vergesellschaftung besorgt also zugleich den Zerfall des Sozialen und damit die Atomisierung der Gesellschaft. Da traditionelle soziale Bindungen, wie sie von Kirchen, den Organisationen der Arbeiterbewegung oder dem Vereinswesen gestiftet werden, zunehmend an Bedeutung verlieren, braucht die Gesellschaft einen stark emotional besetzbaren sozialen Kitt, der sie zusammenhält. Ihn stellt nicht zuletzt der organisierte Fußballsport zur Verfügung, der einen von Illusionen gestifteten sozialen Raum erzeugt. In diesem Raum können sich Menschen mit Hilfe von Phantasmen anstatt durch reale Beziehungen und Lebenszusammenhänge zueinander in Beziehung setzen. Er liefert damit einen fragwürdigen Ersatz für wirklichen sozialen Zusammenhalt.

Warum und wie erzeugt der Fußballsport einen bloß illusionären Zusammenhalt von Menschen? Der Fußballsport, der heute vor allem als kommerziell organisierter Showsport die Massen ergreift, wird von Vereinen organisiert, die als Unternehmen der Unterhaltungsindustrie die Darbietungen ihrer Athleten als Ware an ein sie bezahlendes Publikum verkaufen. Trainer und Aktive im kommerziellen Fußball verkaufen ihre Fähigkeiten an die Unternehmen, die ihnen die größten ökonomischen Vorteile versprechen. Bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes spielt die Bindung an eine Stadt, eine Region oder ein Land üblicherweise kaum eine Rolle. Der Spitzenfußball ist internationalisiert, seine Akteure müssen zur flexiblen Anpassung an wechselnde Örtlichkeiten in der Lage sein. Eine besondere Bindung an die dort lebenden Populationen ist üblicherweise nicht vorhanden, sie widerspricht ihren auf den Ortswechsel angewiesenen kommerziellen Interessen. Obwohl sie keine besondere Beziehung zu ihnen zu haben brauchen, erleben ihre Anhänger sie paradoxerweise als ihre sehr stark emotional besetzen Repräsentanten. Sie spielen im Erleben ihrer Fans gewissermaßen stellvertretend für sie. Wenn sie ein Fußballspiel gewinnen, gilt für diese, obwohl ihre eigene sportliche Leistungsfähigkeit dabei nicht im Spiel war: „Wir haben gewonnen!“ Die enorme sozialpsychologische Bedeutung des Fußballsports ist also auf ein illusionäres Wir-Gefühl angewiesen, von dessen psychischer Aufladung die Fußballbegeisterung lebt.

Was hier festgestellt wurde, gilt nicht nur für den professionell organisierten Ligafußball, es gilt auch auf ähnliche Art für den der Fußballweltmeisterschaft. Die in der international organisierten Unterhaltungsindustrie ohne besondere nationale Bindungen tätigen Fußballspieler verwandeln sich dort plötzlich in Repräsentanten eines nationalen Kollektivs, das im Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung längst in Auflosung begriffen ist. Tendenziell der Vergangenheit angehörende nationalstaatliche Bindungen werden neu emotional aufgeladen; sonst eher international eingestellte Individuen verfallen einem eigentümlichen antiquierten Nationalismus, wenn sie mit „ihrer“ Nationalmannschaft mitfiebern. Das von der Geschichte bereits weitgehend überholte Phantasma der Nation stiftet plötzlich wieder Gefühle einer fiktiven sozialer Nähe und pseudofamiliären Verbundenheit.

Die sozialpsychologischen Elemente dieser Art der fiktiven Gemeinschaftsbildung lassen sich mit Hilfe der psychoanalytischen Massenpsychologie verstehen. Derartige Massenbindungen kommen Sigmund Freud zufolge dadurch zustande, dass sich Menschen mit Führerfiguren identifizieren, die an Stelle dessen treten, was die Psychoanalyse als Ich-Ideal bezeichnet. Sie erleben sie als Figuren, die das erreicht haben oder können, was ihren Idealen entspricht und nehmen so an ihren Erfolgen teil. Die Identifikation von Vielen mit denselben Führerfiguren in Gestalt von Sportstars stiftet zugleich deren Identifikation untereinander. Verbunden mit ihren Fußballhelden können sich die Fans untereinander als emotional eng verbunden erleben, auch wenn sie sich sonst im Alltag fremd, gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstehen. Unter dem Einfluss solcher Massenbindungen verändert sich das Verhalten und Erleben der Einzelnen. Bisher abgewehrte Triebregungen, Wünsche und Emotionen können unter Reduzierung des kritischen Verstandes entscheidend an Einfluss gewinnen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Freisetzung von Aggressivität zu, die man, identifiziert mit der „eigenen Mannschaft“, gegen deren Gegner richten kann. Dieser Gegner, als eine Art gemeinsamer Feind, verstärkt zugleich den emotionalen Zusammenhalt der Fans.

Im Stadion, und vermittelt über die Massenmedien auch anderswo, kommt es besonderes zu einer kollektiven Identifikation mit den Aktiven einer erfolgreichen Mannschaft, die stark narzisstisch getönt ist. Sie soll eine bedrohte Selbstliebe stabilisieren und Kränkungen des Selbstwertgefühls vergessen machen. Wenn die eigene Mannschaft gewonnen hat, kann man sich selbst als Sieger fühlen und rauschhaft triumphieren - auch wenn man sonst im Alltag eher zu den Verlierern gehört. Als z.B. Werder Bremen Deutscher Fußballmeister wurde, beglückwünschten sich viele Bewohner Bremens gegenseitig zu ihrem Erfolg. Der miterlebte Sporttriumph soll zugleich wenigstens für einige Zeit für die Niederlagen in den Rivalitätskonflikten des Alltags entschädigen; mit der Erfahrung von sozialer Ohnmacht verbundene narzisstische Kränkungen sollen durch ihn kompensiert werden. Mit der Zunahme gesellschaftlicher Krisentendenzen wächst die suchthafte Bindung an derartige Ersatzbefriedigungen. In Bremen hat in den letzten Jahren die Fußballbegeisterung nicht nur zugenommen, weil Werder Bremen sehr erfolgreich war, sondern auch, weil eine hier wachsende soziale Misere verstärkt Formen seelischer Verelendung produzierte. Diejenigen, die trotz aller Anstrengungen im alltäglichen Konkurrenzkampf zu den anonymen Verlierern gehören, die vergeblich viele Opfer im Kampf ums Überleben erbringen, denen ihr Alltag ständig viele Begrenzungen und allzu viel Langeweile auferlegt, wollen wenigstens im Stadion, identifiziert mit ihren erfolgreicheren Idolen, die rauschhafte Entgrenzung einer kollektiven 'narzisstischen Himmelfahrt' erleben.

Warum ist die Bindung an die illusionäre Welt des Fußballsports problematisch, obwohl sie seelische Entlastung verspricht?

In der Welt der kollektiven Fußballbegeisterung spielen Interessenkonflikte zwischen Armen und Reichen, ebenso wie solche zwischen Frauen und Männern oder solche zwischen den Generationen scheinbar kaum eine Rolle. Sie scheinen aufgehoben - Alle scheinen durch die gemeinsame Fußballbegeisterung vereint. Keine andere Sportart erfreut sich bei allen Bevölkerungsgruppen einer ähnlichen Beliebtheit. Aber notwendige soziale Veränderungen hin zu mehr Gerechtigkeit und mehr Mitspracherechten sind an die Austragung dieser Konflikte gebunden, ohne sie gibt es keinen wirklichen sozialen Fortschritt. Zugleich ist der Fußballbetrieb, der sozialen Zusammenhalt und jedem die gleiche Chance in einer fairen Konkurrenz des Sports verspricht, an die Gesetze fragwürdiger bestehender Machtordnungen gebunden. Besonders aufgrund seiner wachsenden Kommerzialisierung wird der Sport zunehmend an die Interessen von Firmen bzw. deren wohlhabende Eigentümer gefesselt. Die Träger ökonomischer Macht bestimmen damit auch entscheidend, was im Sport geschieht, und in den Führungsorganen der Vereine sind die unteren sozialen Schichten praktisch nicht repräsentiert. Obwohl sich immer mehr Frauen als Zuchauerinnen und Aktive zum Fußballsport hingezogen fühlen, bestimmen sie kaum mit, wie er organisiert wird. Obwohl Fußball fast nur von Jüngeren gespielt wird, werden diese dabei von der älteren Generation gelenkt und verwaltet. In der Welt des Fußballsports aber scheinen solche Widersprüche keine Rolle zu spielen, deshalb ist sie geeignet, sie zu verschleiern und damit die produktive Austragung von sozialen Konflikten zu erschweren.

Die bloß über Phantasmen vermittelte soziale Integration, die der organisierte Fußballsport anbietet, wird durch seine Verbindung mit den elektronischen Medien ungeheuer verstärkt. Das kann fatale Wirkungen zeitigen, wie das Bespiel Italiens zeigt. Dem Medienunternehmer Berlusconi gelang es dort mit Hilfe des Fußballsports als Ministerpräsident an die politische Macht zu kommen und auf demokratiefeindliche Art den Staat für seine privaten Interessen zu funktionalisieren. Berlusconi übernahm als Vorsitzender den maroden AC-Mailand und machte ihn mit Hilfe seines privaten Vermögens zu einem international sehr erfolgreichen Club. Dadurch erlangte er einen Ruf als fähiger Organisator und vor allem in Mailand, dem Zentrum der italienischen Wirtschaft, große Popularität. Dann sicherte er sich für seine privaten Fernsehkanäle die wesentlichen Übertragungsrechte für den bezahlten Fußball und trat dort immer wieder als großer Fußballexperte auf, was seine Popularität noch steigerte. Seine Sender verbinden darüber hinaus das Schüren der Fußballbegeisterung mit einem demagogischen, eigene Interessen verschleiernden Nationalismus. Diese Mischung ließ ihn und seine Clique erfolgreich Wahlen bestehen, ohne sie wäre er nie an die Macht gekommen, und er hat durchaus Chancen sie einst wieder zu erlangen. Auch in Deutschland könnte man mit dieser Mischung vielleicht bald leichter an die Macht kommen, wenn der naive fahnenschwingende Nationalismus das Tor zu anderen Formen des Nationalismus geöffnet hat und diese politisch organisiert werden.

Fußballbegeisterung und eingefrorene Adoleszenz

Im Folgenden soll thesenartig, in einer entwicklungspsychologischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektive, auf die Verbindung von Adoleszenz und Fußballbegeisterung hingewiesen werden. Die Masse derjenigen, die heute im Bereich des Fußballsports aktiv sind, ist dieser Altersstufe zuzurechnen. In meiner Darstellung werde ich auch auf die positiven Sozialisationsmöglichkeiten eingehen, die der Sport potentiell in sich trägt, aber zugleich vor allem versuchen, deutlich zu machen, dass der Fußballsport in seiner heute vorherrschenden Gestalt während der Adoleszenz eine durchaus problematische Rolle zu spielen vermag. Meine Analyse bezieht sich vor allem auf männliche Adoleszente, für die der Fußballsport typischerweise eine besondere Rolle spielt. (Auf seine neue Rolle für weibliche Jugendliche sollten wir in der Diskussion besonders eingehen.)

Während der Adoleszenz, der Phase zwischen Kindheit und Erwachsenheit, haben Jugendliche bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Sie müssen sich von der Herkunftsfamilie ablösen. Sie müssen eine sexuelle Identität als Frau oder Mann finden, in der sie ihre neu erwachten sexuellen Regungen unterbringen können. Sie müssen einen Zugang zur Sphäre der Arbeit und des Berufs suchen. Sie sollten lernen, einen Zugang zum Sozialen jenseits der Familie zu finden und sich dem sozialen Engagement im Bereich der Kultur und der Politik zu öffnen. Dabei kann der Fußballsport unter bestimmten Umständen behilflich sein.

Der Fußballsport stellt eine Art Initiationsritus zur Verfügung, der einen Zugang zur erwachsenen Männlichkeit verspricht. Die Ablösung von der Familie, und dabei besonders die von der Mutter, kann durch die Bindung an eine Gruppe männlicher Jugendlicher, die gemeinsam Sport treiben, erleichtert werden. Was als Männlichkeit gilt, die sich vom Weiblichen absetzen will, wird nicht zuletzt mit Hilfe dieses Sports vermittelt, der traditionell als Männersport gilt oder zumindest galt. Das gemeinsame Fußballspielen in der Gruppe der Jugendlichen kann bornierten egozentrischen Einstellungen entgegenwirken, es kann z. B. Einzelkindern dabei helfen, zu lernen, eigene Interessen den gemeinsamen Interessen einer Gruppe einzufügen. In Kampfspielen, wie dem Fußballsport, kann man eine gewisse Robustheit erwerben, die für das Überleben in der bestehenden Arbeits- und Konkurrenzgesellschaft notwendig ist. Da das Kämpfen auf dem Fußballplatz an Regeln gebunden ist, kann man dort lernen, aggressives Verhalten Regeln zu unterwerfen und ganz allgemein die Notwendigkeit erkennen, sich an Regeln zu orientieren. Das sportliche Gebot der Fairness kann helfen, zu vermitteln, den Gegner nicht als Feind zu betrachten, der keinerlei Rücksichtnahme verdient. Wo, wie etwa in Slums, jede soziale Ordnung zu zerfallen droht, kann der Sport Jungendlichen einen letzten sozialen Halt geben, der vor der Asozialität der Kriminalität bewahrt. Jugendliche verschiedener nationaler Herkunft oder aus verschiedenen sozialen Schichten können sich bei gemeinsamen sportlichen Aktivitäten kennen und respektieren lernen. Die Internationalisierung des Sportbetriebs kann helfen, den Horizont zu erweitern, indem man durch ihn mit fremden Ländern und Menschen in Kontakt kommen kann. Der Fußballsport kann also, wie diese Beispiele zeigen, unter günstigen Umständen, bei Jugendlichen Lernprozesse hin zu wünschenswerten sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen anstoßen. Dazu benötigen diese aber, trotz der Bindung an Regeln des Sports, offene soziale Räume, die eigene Gestaltungsmöglichkeiten zulassen. Dazu müssen sie sich z. B. der Tyrannei eines vom Spitzensport herkommenden übersteigerten Leistungsprinzips und der mit ihm verbundenen Kommerzialisierung und vorgeplanten Verregelung ihres Sport entziehen können, was leider immer weniger möglich ist.

Das, was unter günstigen Umständen an Positivem mit dem Fußballsport verbunden ist, wird aber heute im organisierten Sport allzu leicht mit Elementen verknüpft, die dafür sorgen, dass jugendliche Lebendigkeit und das in den Jugendlichen vorhandene kreative Potential eingefroren werden, wodurch der Sport zu einer Schule der Unmündigkeit wird. Auf diese negativen Elemente, die ins Freiere führende Lernprozesse blockieren, soll im Folgendes hingewiesen werden.

Sinnvolle soziale Neurungen, ebenso wie gelingende Entwicklungsprozesse von Jungendlichen, verlangen nicht zuletzt, dass die jüngere Generation etwas anderes will als die ältere Generation: Die Jugend kann zum Motor einer besseren Zukunft werden und sich dabei selbst entwickeln, wenn sie sich dem widersetzt, was in der Gesellschaft Gültigkeit hat, weil es von Erwachsenen vorgeschrieben wird. Notwendige gesellschaftliche Veränderungen sind fast immer daran gebunden, dass jüngere Menschen Anderes, Besseres, Gerechteres wollen als Ältere und deshalb neue Regeln und neue Ordnungen für ihr Leben suchen. Es gibt keine wirkliche gesellschaftliche Erneuerung und mit Ablösungsprozessen verbundenen psychischen Reifungsprozesse bei Einzelnen ohne eine gelingende Austragung des Generationskonflikts. Im Bereich des Fußballsports aber wird dieser weitgehend neutralisiert. Die Jugendlichen verweigern sich dort tendenziell den für ihre Reifungsprozesse notwendigen, konflikthaften Auseinandersetzungen mit der älteren Generation. Die Regeln beim Fußballsport werden den Jungendlichen von älteren Männern vorgegeben. Ältere ordnen als Trainer oder Funktionäre an, was Jüngere auf dem Spielfeld zu tun und zu lassen haben, und die Jugendlichen fügen sich dem. Notwendige kämpferische Energien in der Auseinandersetzung mit den Älteren werden in Kämpfe mit dem sportlichen Gegner verschoben und dadurch neutralisiert.

Die Verweigerung eines notwendigen Generationskonflikts ist freilich auch der älteren Generation geschuldet. Wo Ältere immer mehr gezwungen werden, sich wirtschaftlicher Fremdbestimmung zu unterwerfen und, etwa als Arbeitslose, Bettelhaltungen gegenüber dem Staat zu zeigen, bleiben sie leicht an fragwürdige unreife Persönlichkeitsanteile fixiert. Ihnen misslingt dann eine mit Mündigkeit verbundene wirkliche Erwachsenheit, und sie fallen damit als Widerpart für Jungendliche weitgehend aus. Im Bereich des Sports legt der Jungendwahn von Älteren, die mit Hilfe übersteigerter sportlicher Aktivitäten ihre Altern vertuschen wollen, davon Zeugnis ab. Wo erwachsene Männer, mit Fanartikeln verkleidet, mit einem Bierernst ins Fußballstadion pilgern und dann auch noch glauben, sie seinen lustig, sollte einem das vielleicht gar nicht mehr lustig vorkommen, weil sie sich wie Adoleszente verhalten.

Zur Adoleszenz gehört das Bemühen um das Finden einer den eigenen Bedürfnissen und Wünschen angemessenen heterosexuellen oder auch homosexuellen sexuellen Identität. Im Bereich der Heterosexualität muss die schwierige Annäherung an das andere Geschlecht versucht werden. Ein gelingendes Experimentieren mit Geschlechterrollen kann dabei neue Erfahrungsmöglichkeiten und Räume des Wünschens und Verhaltens eröffnen. Bevor die männlichen Jugendlichen sich dem anderen Geschlecht zuwenden, zeigen sie eine Tendenz, sich Gruppen von Jugendlichen des gleichen Geschlechts anzuschließen. Die männliche Peergroup soll die schwierige Konfrontation mit dem anderen Geschlecht hinausschieben, die Bindung an sie lebt nicht zuletzt von der Angst, die mit der heterosexuellen Erotik verknüpft ist. Die Jugendkultur, die mit dem Fußballsport verknüpft ist, kann dazu beitragen, in dieser Phase stecken zu bleiben. Sie sucht als männliche Kultur kein Experimentieren mit Geschlechterrollen, das auf ein freieres Verhältnis zum andern Geschlechter aus ist. Der Rausch, der in Verbindung mit der Fußballbegeisterung gesucht wird, lebt nicht zuletzt von der Angst vor den rauschhaften sexuellen Leidenschaften, die das Verhältnis von Männern und Frauen mit sich bringen kann. Beim Leistungssport lernt man vor allem, den Körper zu beherrschen, aber nicht, wie es der sexuelle Genuss verlangt, sich ihm hinzugeben. Deshalb kann man mit Hilfe des Sports die Flucht vor der Erotik organisieren.

Nicht nur die Findung einer heterosexuellen Identität, vor allem die einer homosexuellen Identität vermag die Fixierung an den Leistungssport Fußball erschweren. Der Fußball als Sport unter Männern lebt von einer ausgeprägten latenten Homosexualität. Hier „treiben“ es Männer mit Männern, die sich, nachdem sie beim Torschuss anderen Männern ihre Potenz bewiesen haben, lustvoll aufeinander werfen. Für „echte Fans“ kommt der Fußball auf den Hund, wenn zu viele Frauen im Stadion sind. Zugleich müssen die homosexuellen Elemente dieses Treibens streng tabuisiert werden. Ein offen homosexueller Fußballspieler jagt seinen Mitspielern Angst ein, weil er diese Tabus in Frage stellt. Ein homosexueller Profifußballer, der seine sexuellen Neigungen offenbaren würde, müsste seine Karriere beenden. Im Fußballbetrieb herrscht eine ausgeprägte Homophobie, die das schwierige Coming-Out von homosexuellen Jungendlichen erschwert.

Jugendliche, die sich von ihren Eltern ablösen, suchen nach neuen Autoritäten, die ihnen Orientierung gewähren und als Vorbild dienen können. Männliche Jugendliche suchen Vorbilder nicht zuletzt in Gestalt von Fußballstars. Ihre Idole, die im Bereich des Berufsfußballs zu Ansehen gekommen sind, sind aber keineswegs Repräsentanten des Bemühens um selbsttätiges Engagement, Nonkonformismus oder ein eigenständiges kritisches Urteil, sie sind vielmehr die idealen Repräsentanten des sozialen Konformismus. Sie müssen bereit sein, sich mit Haut und Haaren den Anforderungen das Marktes zu unterwerfen und dabei ein rundum diszipliniertes Verhalten zu zeigen, das ihnen von ihren Trainern, Managern und Werbepartnern abverlangt wird. Der skrupellose italienische Machtpolitiker Silvio Berlusconi äußerte als Besitzer des AC Mailand: „Ein guter Spieler ist ein vorbildlicher Angestellter.“ Damit hatte er wohl recht, und deshalb werden erfolgreiche Berufsfußballer von einer Gesellschaft verehrt, in der anpassungsbereite Angestellte das kulturelle Klima bestimmen. Als ideale Angestellte sagen Fußballprofis nie öffentlich etwas Kritisches gegen ihren Verein, ihren Trainer, ihre Mitspieler oder gar ihre Sponsoren. Die einsatzbereiten jungen Männer sind bereit, nicht nur ihre sportlichen Leistungen, sondern ihr gesamtes Verhalten zur Werbung für ihr kommerzielles Fußballunternehmen und seine und ihre Geldgeber einzusetzen. Als Werbeträger müssen sie die sportliche Leistungsmoral auch für den Bereich des Konsums propagieren und den jeweils geltenden modischen Trends zum Durchbruch verhelfen. Ein erfolgreicher Fußballspieler muss heute nicht nur mit seinen Leistungen auf dem Spielfeld, sondern auch mit seinem Aussehen und seinem gesamten Verhalten demonstrieren, dass er sein Geld wert ist. Er äußert in Interviews in den Medien geduldig und in endloser Wiederholung dieselben antrainierten, nichtssagenden Sätze. Er äußert nie eine profilierte, vom Mainstream abweichende politische Meinung. Wenn er zu sehr aus der vorgeschriebenen Rolle fällt, ist seine Karriere zuende.

Die auf angepasste Art leistungsbereiten Fußballstars sind die idealen Repräsentanten des gegenwärtigen Kapitalismus, aber sie taugen nicht als Vorbild für Jugendliche, die in einer demokratischen Kultur, die auf Selbstbestimmung aus ist, dafür einstehen wollen, dass das soziale Leben und die Lebendigkeit von Menschen nicht einer immer totalitärer werdenden Ökonomisierung der Gesellschaft geopfert werden.

Ich komme zum Schluss: Der Sport kann gesund sein, er kann einer notwendigen Zerstreuung dienen und er kann Jugendlichen helfen, bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen - wo er aber zum Lebensersatz wird, wie das heute immer mehr der Fall ist, steht es schlimm um eine Gesellschaft, und die Tore auf dem Fußballfeld werden zu Eigentoren von Beherrschten.