Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Fremdenfeindlichkeit und die Krise der Linken

Erschienen in „Widersprüche“ Ausgabe 45, Dezember 1992 (ISBN 3-88534-091-7)

I.

Unser Verhältnis zu fremden Menschen und fremden Kulturen ist mit dem verknüpft, was uns an uns selbst fremd ist. Das "innere Ausland" (Freud) bestimmt entscheidend, wie Ausländer erfahren werden. Die eigene Psyche ist dem Bewusstsein immer nur teilweise zugänglich. Je schwächer das Ich ist, desto mehr gerät die Psyche unter das Diktat unbewusster seelischer Kräfte. Wenn sich das Ich aufgrund fehlgelaufener Erziehungsprozesse nicht entwickeln konnte oder aufgrund eines Mangels an sozialen Gestaltungsspielräumen verkümmert, sind Menschen in Gefahr, undurchschauten inneren Mächten zu verfallen. Was durch gesellschaftliche Normen tabuisiert ist oder das eigene bedrohte Selbstbild zu sehr kränken könnte, kann abgespalten und verdrängt werden. Dies dem Bewusstsein Entzogene kann wiederkehren, indem es auf andere Menschen projiziert wird, indem es unbewusst Fremden unterschoben wird. Der Fremde kann zum Repräsentanten abgewehrter eigener Triebregungen werden, sein Bild kann von dem entstellt sein, was man insgeheim ist oder begehrt. Das unheimliche Fremde kann also durchaus heimlich vertraut sein. Die eigene verdrängte Destruktivität kann im Bild des gewalttätigen Fremden wiederkehren; wo geltende Rechtsnormen insgeheim gerne überschritten würden, kann er als notorischer Rechtsbrecher erscheinen. Wo man viel arbeiten muss, erscheinen einem Ausländer gerne als faul, wo man den Mund halten muss, gelten sie als laut, wo die Sexualität nicht gelebt werden kann, gilt ihre Triebhaftigkeit als bedrohlich. Der Ausländer muss nicht nur verpönte Triebregungen repräsentieren, mit ihm kann auch der Wunsch nach einem besseren Leben verknüpft werden. Er kann für die Sehnsucht stehen, der eigenen Enge durch den Drang in die Ferne zu entrinnen, er kann die Lebendigkeit repräsentieren, die man sich selbst austreiben musste, man kann ihm enge soziale Bindungen zuschreiben, an deren Mangel man leidet. Wo man sich durch derartige Wünsche bedroht fühlt, weil sie die Anpassung an beschränkende Verhältnisse erschweren, müssen auch diejenigen, die sie wachrufen, als bedrohlich erfahren werden. In den Hass auf die Fremden geht meist auch ein Neid auf sie ein. Auch die Idealisierung von Ausländern, durch die Wunsch und Wirklichkeit gleichgesetzt werden, erschwert es, ihnen gerecht zu werden. Außerdem ist, wie die Psychoanalyse aufzeigen kann, die Idealisierung fast immer mit einer heimlichen verdrängten Aggressivität verknüpft. Man darf durchaus Fremden gegenüber unsicher sein und mit manchen von ihnen Probleme haben, ohne dadurch automatisch ein schlechter Mensch zu sein.

Um mehr Verständnis für Fremde zu gewinnen, reicht allein die Konfrontation mit ihrer Realität nicht aus. Nur ein anderes Verhältnis zum eigenen Begehren, nur ein freieres Wünschen erlaubt es, sie als soziale Bereicherung zu erfahren. Mehr Anteilnahme am Schicksal von Ausländern kann nicht durch bloße Aufklärung und moralische Appelle erlangt werden. Sie verlangt einen anderen Umgang mit Triebregungen und Wünschen, sie verlangt ein gewandeltes Fühlen und Erleben. Einer veränderten Realitätserfahrung stehen äußere und innere Barrieren entgegen. "Die Angst macht die Verdrängung", heißt es bei Freud, sie irrationalisiert die Bedürfnisse und schlägt mit Blindheit gegenüber äußeren und inneren Realitäten. Eine andere Beziehung zum eigenen Selbst wie zu anderen Menschen verlangt den Abbau von Angst, der Energien freisetzt, anders mit sich selbst und anderen umzugehen. Dieser Abbau ist an sicherheitsstiftende soziale Beziehungen und Verhältnisse gebunden, die es dem Ich erlauben, sich Ängsten zu stellen und neue Bedürfnisse zu entwickeln. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Studentenbewegung, die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung, die Friedensbewegung oder die Bürgerbewegung in der früheren DDR Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur erlaubt, ihre Kritik an lebensfeindlichen Realitäten auszudrücken. Im Rahmen dieser Bewegungen sind auch vielfältige soziale Beziehungen zustande gekommen, die neue soziale Erfahrungen ermöglicht haben. Diese Bewegungen haben es begünstigt, Ängste vor dem Erproben anderer Umgangsformen abzubauen und dadurch andere Wünsche und Bedürfnisse zu entdecken. Wo solche sozialen Emanzipationsbewegungen zerfallen und keine neuen entstehen, fehlt für die Heranwachsenden ein wichtiges Element für psychische und soziale Lernprozesse, aus denen Offenheit gegenüber Fremden erwächst. Man muss soziale Beziehungen erfahren, in denen man es sich leisten kann, sich selbst fremd zu werden, um einen anderen Umgang mit dem Fremden zu erlernen.

II.

Lebensgeschichtliche Entwicklungen stehen immer in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Wie die Ablösung von Vertrautem und die Hinwendung zu Fremdem gelingt, ist entscheidend für das Gelingen oder Misslingen menschlicher Reifungsprozesse. Jeder positive soziale Lernprozess muss durch die Angst vor Fremden hindurch, nur nach ihrer Überwindung können sie als Bereicherung erfahren werden. Das "fremdelnde" Kleinkind fürchtet sich vor allen Menschen, die nicht seine Mutter sind. Das Kind, das in die Schule eintritt, hat Angst vor der Vielzahl fremder Kinder. Die Pubertät der Jugendlichen ist mit der Angst vor den fremdartigen Mitgliedern des anderen Geschlechts verbunden. Wie frühere Hinwendungen zum Fremden verlaufen sind, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie es in der Gegenwart erfahren wird. Wenn notwendige Trennungsprozesse nicht gelungen sind und deshalb fragwürdig gewordene frühere Bindungen bewusst oder unbewusst fortbestehen, muss die Erfahrung des Fremden besonders ängstigend ausfallen. Dass Menschen zu sozialen Wesen werden, dass sie kultur- und politikfähig werden, erfordert die Ablösung von frühen Bindungen an die Herkunftsfamilie. Wo diese misslingt, kann es auf der politischen Ebene zum Nationalismus kommen, der unbewusst ein politisches Gemeinwesen mit der Familie gleichsetzt und diejenigen auszugrenzen bestrebt ist, die nicht "zu uns" gehören. Schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat Wilhelm Reich in seiner "Massenpsychologie des Faschismus" aufgezeigt, dass Nationalismus mit ungelösten infantilen Verbindungen verknüpft ist. "Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes wie die Familie seine ‚Nation im kleinen' ist", heißt es dort. Das simplifizierende und emotional aufgeladene nationalistische Weltbild kann die Komplexität ökonomischer und sozialer Prozesse nicht zur Kenntnis nehmen. Es sucht stattdessen im nationalen Führer eine starke väterliche Macht, die, zusammen mit ihren treuergebenen Söhnen, die Mutter Heimat gegen fremde Horden verteidigt. Nur seine "archaische", familiäre Aufladung erlaubt die Leidenschaften, die dem Nationalen gelten können.

Infantile soziale Bindungen und die ihnen entsprechenden Realitätserfahrungen können da nicht überwunden werden, wo die Gesellschaft ihren Mitgliedern ein mündiges Erwachsensein verwehrt. Menschen bleiben vor allem da an sie fixiert, wo es ihnen verwehrt ist, ihr Schicksal selbst zu gestalten, und wo sie stattdessen zu Bettelhaltungen gegenüber staatlichen und ökonomischen Mächten verurteilt sind. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche von der unpersönlichen Macht des Geldes regiert werden und wo sich Menschen immer mehr von bürokratisch strukturierten Großorganisationen anonym verwaltet fühlen, neigen sie dazu, seelischen Halt beim Nationalen zu suchen, das Gemeinschaftsgefühle gegenüber der gesellschaftlichen Kälte verspricht. Wenn Demokratie bloß als Veranstaltung von Politikern erfahren wird, wenn sie einem anonymen Verwaltungsstaat zugerechnet wird oder nur mit Wahlprozeduren gleichgesetzt wird, bei denen die eigene Stimme gegenüber unzähligen anderen kaum etwas gilt, wird der Demokratie die emotionale Besetzung entzogen. Die Emotionen landen dann leicht beim Nationalismus, der mehr gefühlsmäßige Aufladung duldet. Die Überwindung von nationalistischen Fiktionen des Zusammenlebens kann nur durch demokratische Emanzipationsbewegungen zustande gebracht werden, die wirkliche soziale Beziehungen und Verhältnisse stiften, die ein anderes Erleben zulassen.

III.

Die Neigung zur totalitären Gleichmacherei, die alles Fremde ausgrenzen will, ist mit einem fragwürdigen Umgang mit der Geschlechterdifferenz verbunden. Wie man sich zur Andersartigkeit von Menschen aus anderen Kulturen verhält, ist entscheidend vom Verhältnis zum anderen Geschlecht abhängig. Freud hat aufgezeigt, dass die intellektuelle Neugier des Kindes, die sein Interesse an der Auseinandersetzung mit unbekannten Realitäten hervorbringt, vor allem in Verbindung mit der Erkundung der Geschlechterdifferenz geweckt wird. In Selbsterfahrungsgruppen lässt sich deutlich machen, dass erst in Verbindung mit der Bearbeitung der Geschlechterdifferenz auch andere Differenzen zwischen Menschen positiv gewürdigt werden können. Am Modell des Mütterlichen und Weiblichen lernen männliche Wesen den Umgang mit dem, was anders ist als sie selbst. Die Toleranz gegenüber dem Andersartigen, an die jede Humanität gebunden ist, wird bei Männern von einer aus kulturellen Traditionen resultierenden Frauenfeindlichkeit untergraben. Untersuchungen von männlichen "autoritätsgebundenen Charakteren", die zu antidemokratischen Einstellungen tendierten, zeigten eine Verbindung von unterschwellig angstbesetzter Frauenfeindlichkeit und "ethnozentristischen" Einstellungen. Die Diskriminierung des Weiblichen geht nach den Forschungen von Adorno und anderen mit der Ablehnung des Andersartigen, Unbekannten, Fremden an anderen Menschen einher. Wo bei Männern Frauenfeindlichkeit auftritt, werden typischerweise neben Ausländern auch Juden, Homosexuelle oder psychisch Kranke, also "Abweichler" aller Art, diskriminiert. Das Bild des abgewehrten Fremden zeigt bei Männern häufig "feminine" Züge wie Gefühlsbetontheit, Mangel an Selbstdisziplin oder eine verführerische Sinnlichkeit. Auch fremdenfeindliche Frauen tendieren dazu, Ausländer mit Zügen des andern Geschlechts auszustatten, die sie besonders ablehnen. Eine von irrationalen Ängsten gespeiste Männerfeindlichkeit lässt sie dazu tendieren, an männlichen Ausländern potenziert das auszumachen, was ihnen auch an anderen Männern als bedrohlich und hassenswert gilt.

Militante Ausländerfeinde finden sich zur Zeit vor allem unter männlichen Jugendlichen, die während der Adoleszenz in Schwierigkeiten mit der Findung der Geschlechterrolle verstrickt sind. Aus Angst vor dem anderen Geschlecht tendieren männliche Jugendliche während der Adoleszenz zur Flucht in männliche Peergroups. Hier kann es zur Überbetonung einer fragwürdigen Männlichkeit kommen, der alles zuwider ist, was als weiblich gilt. Wenn die Sexualität - aus Angst vor ihr - in starre, klischeehafte Muster gepresst werden muss, bekommen das nicht nur Frauen, sondern auch Ausländer zu spüren. Die Abwehr des Weiblichen, die sich nicht zuletzt auf die Abwehr der "weiblichen" Anteile der eigenen Person bezieht, kann in einen militanten Männlichkeitskult münden, der Feinde braucht, um sich zu bewähren. Männliche Gewaltsamkeit ist überall in der Gesellschaft besonders in Männerriegen anzutreffen, die Frauen ausgrenzen. Die Tendenz zu harten Männern wächst in Krisenzeiten mit sich verschärfender Konkurrenz und sozialer Entwurzelung. Wo das Überleben Rücksichtslosigkeit gegen andere wie gegen sich selbst verlangt, kommt eine Männlichkeit zum Zuge, die Sensibilität für eine weibliche Schwäche hält. Wo man seine Lebendigkeit nicht im Genuss seiner Geschlechtlichkeit spüren kann, will man sie wenigstens erfahren, indem man Gewalt ausübt. Der Körper, dem der Genuss versagt ist, sucht sich wenigstens auf pervertierte Weise Geltung zu verschaffen und fordert das Recht auf den Schlag.

Der Kampf gegen die Fremdenfeindlichkeit kann nur dann erfolgreich sein, wenn ein freieres Spiel der Geschlechterdifferenz zum Zuge kommen kann, das der Sinnlichkeit eher zu ihrem Recht verhilft. Erst wenn das andere Geschlecht mehr erotischen Reiz erlangen kann, zieht auch das Andere, das sich von einem unterscheidet, weniger Angst und Aggressivität auf sich. Die Jugendlichen, denen der Zugang zur Erotik gelingt, entdecken damit zugleich auch den erotischen Reiz des Fremden, das den besten Schutz gegen seine Diskriminierung darstellt. Wer sich vor der Erotik besonders fürchtet, wird leicht zum Nationalisten, den es aus Angst nie in die Fremde zieht. Je mehr die Gesellschaft wieder die harten ökonomischen und politischen Macher verehrt und seit aufgrund der Krise der Frauenbewegung das Ringen um andere Formen des Geschlechterverhältnisses stagniert, kommt wieder eine Männlichkeit zum Zuge, die das Fremde ablehnt und die Schwächere das Fürchten lehren will.

IV.

Ausländer müssen die Rolle von Stellvertretern für vielerlei Hassobjekte spielen. Aggressive Regungen können unbewusst von einem Objekt auf ein anderes verschoben werden, bei dem es ungefährlicher ist, sie unterzubringen. Die Analyse der Ausländerfeindlichkeit muss fragen, wem die Wut eigentlich gilt, wenn Ausländer misshandelt werden.

Aggressive Regungen, die dem eigenen Selbst gelten, können auf andere Menschen verschoben werden, wenn das eigene Selbst durch sie zu sehr entwertet würde. Ein abgewehrter Selbsthass kann die Gestalt des Hasses auf andere annehmen. Diejenigen, die sich als Opfer sozialer Verhältnisse erfahren und sich nicht dagegen wehren, tendieren, um die Selbstverachtung abzuwehren, dazu, anderen die Rolle des Opfers aufzuzwingen. Das Opfer, das sie selbst sind, sollen andere repräsentieren, die noch mehr Opfer werden. Der Ausländer, dem Gewalt angetan wird, erfährt diese auch stellvertretend für das eigene, um seine Entfaltung gebrachte Selbst. Man kann sich von selbstzerstörerischen Regungen entlasten, indem man anderen das antut, was einem selber angetan wurde.

In Verbindung mit dieser Einsicht lässt sich die Frage diskutieren, ob die deutschen Ausländerfeinde überhaupt deutsche Nationalisten sind. In vielem scheinen sie eher multikulturell orientiert zu sein: sie tragen Jeans und benutzen Baseball-Schläger, die ursprünglich aus den USA stammen. Ihre Musik ist meist an die anglo-amerikanische Rockmusik angelehnt. Ihre Glatzen entstammen einem subkulturellen proletarischen Milieu in England. Ihre Springerstiefel stammen von der Bundeswehr, einer Armee, die Teil der multinationalen Nato ist. Der Mörder an einem Schwarzen in Dessau trug bei seiner Gerichtsverhandlung ein T-Shirt mit englischer Aufschrift. All das weist darauf hin, dass "nationalistische" Skinheads (auch ein sehr deutscher Ausdruck!) insgeheim mit einer westlichen multinationalen Kultur identifiziert sind. Man kann wenig spezifisch Deutsches an ihnen ausmachen. Sie zeigen eine Identifikation mit der westlichen Kultur, die aber mit der Angst verknüpft ist, in ihr nicht zum Zuge zu kommen. Sie sind häufig arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht, sie verfügen meist über keine materiellen Reichtümer. Ihr Aussehen entspricht meist nicht dem von den Medien propagierten Erfolgsideal. Ein Mangel an Bildung, Sprachkenntnissen und Erfahrungen mit Fremden schürt ihre Angst vor Kontakten mit Ausländern, die für das eigene Fortkommen notwendig sind. Sie haben häufig in Familie, Schule oder Beruf meist schon viele Niederlagen und Beschämungen erfahren. Sie sind die Konkurrenzverlierer oder potentiellen Konkurrenzverlierer und wollen deshalb über die triumphieren, die noch weiter unten sind als sie selbst, um sich selbst aufzuwerten. Die Bedrohung durch den sozialen Tod führt leicht zu einem mit Selbstentwertung verbundenen Selbsthass. Man kann von diesem Entlastung suchen, indem man ihn auf die verschiebt, die noch mehr Opfer sind als man selbst.

Die Fremden müssen häufig auch stellvertretend einen Hass gegen die Mächte auf sich nehmen, die die eigene Existenz wirklich bedrohen. Deshalb ist die Ausländerfeindlichkeit in den Teilen der früheren DDR besonders ausgeprägt, wo es praktisch keine Ausländer gibt. Man wirft dort den nicht vorhandenen Ausländern gerne vor, sie würden die Arbeit wegnehmen, krumme Geschäfte machen, schnell und leicht zu Geld kommen und überhaupt alles durcheinander bringen. Dieser Vorwurf erscheint weniger absurd, wenn man ihn auf die "deutschen Ausländer", auf die Wessies bezieht, die in der früheren DDR nach der Wende real oder scheinbar ihr Glück gemacht haben. Selbst der frühere Bundeskanzler Schmidt betont immer wieder, dass es ein schwerer politischer Fehler war, dass die Bevölkerung der früheren DDR nach der Wende nur 5 % des von ihr geschaffenen Produktivvermögens erwerben konnte. Diese muss sich heute als von Fremden bestimmt erfahren, von denen das eigene Überleben zugleich auf so extreme Weise abhängig ist, dass kaum eine aggressive Auflehnung gegen sie möglich ist. Den Hass auf die fremden Mächte, denen sie sich ausgeliefert fühlen, lassen viele Ossies die Fremden spüren, auf die sie ihren Hass verschieben.

Gesellschaftliche Emanzipationsprozesse verlangen, dass aggressive Regungen dort untergebracht werden, wo sie, vom Verstand bearbeitet, sinnvolle Veränderungen antreiben können. Es ist falsch, von Menschen, die in einer Gesellschaft überleben müssen, deren Ökonomie auf aggressiver Konkurrenz basiert, ein aggressionsfreies Verhalten zu erwarten. Sinnvoller ist es, ihnen einen "gekonnten" Umgang mit der Aggression zu vermitteln, ihnen die Möglichkeit zu geben, das richtige Nein-Sagen zu lernen. Wer Ja zu demokratischen Verhältnissen sagen soll, muss Nein zu sozialen Missständen und denen sagen können, die sie zu verantworten haben. Eine demokratische Gesellschaft verlangt vor allem eine entwickelte Streit- und Konfliktkultur, nur durch sie kann zerstörerische Gewalt vermieden werden. Es ist wenig erfolgversprechend, aggressiven Jugendlichen das brave Ja-Sagen zum Bestehenden beibringen zu wollen. Besser ist es, ihre Aggressivität, die häufig eine bewusste oder unbewusste Kritik an sozialen Missständen enthält, in gelungenere Formen des Nein-Sagens zu überführen. Ein besonderes Problem unserer Kultur besteht darin, dass die Menschen in ihr eher das Ja- als das Nein-Sagen lernen. Das bringt es mit sich, dass sie in Konfliktsituationen zu autoaggressiven Schuldgefühlen oder zu rücksichtsloser, destruktiver Gewalt tendieren, weil sie nicht gelernt haben, auf sinnvollere, unschädlichere Art Nein zu sagen. Die Fähigkeit zum sinnvollen Nein-Sagen hat eine positive Beziehung zu liebevollen Lebenseinstellungen. Man kann Menschen nicht gern haben, wenn man das Schlimme nicht bekämpfen will, was ihnen angetan wird. Wer nicht Nein sagen kann, kann auch nicht Ja sagen. Die sozialen Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte haben vielen Heranwachsenden dabei geholfen, mit einer entwickelten Konfliktkultur Erfahrungen zu machen. Sie haben vielen die Möglichkeit eröffnet, das produktive Austragen von Konflikten zu erlernen. Wenn derartige Bewegungen an Einfluss verlieren, gewinnt die blinde Destruktivität wieder an Bedeutung.

V.

Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind kein spezifisch deutsches Problem, auch wenn sie vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders erschrecken müssen. Sie sind überall in den westlichen Gesellschaften in verwandter Form anzutreffen. Ihre massenhafte Verbreitung ist Ausdruck der ökonomischen und politischen Krisentendenzen dieser Gesellschaften. Sie ist aber auch Ausdruck der Krise der Kritik dieser Gesellschaft. Das Wiedererstarken der rechten Gewaltbereitschaft ist nicht zuletzt eine Konsequenz einer tiefen Krise der Linken, die das demokratische Potential der Gesellschaft entscheidend schwächt. Mit dem Scheitern des totalitären Sozialismus haben auch alle anderen Richtungen des Sozialismus an Ansehen verloren. Die kapitalistisch geprägte Industriegesellschaft scheint heute ohne Alternative zu sein. Die grundlegende Kritik, die die Linke an ihr geübt hat, gilt als hinfällig oder wird nicht mehr zur Kenntnis genommen. Dabei hat weniger die "freie Marktwirtschaft" als die theoretische und praktische Kritik einer sich als sozialistisch verstehenden westlichen Arbeiterbewegung und die stark antikapitalistisch ausgerichteten Sozialbewegungen der 60iger, 70iger und 80iger Jahre des 20. Jahrhunderts das demokratische Potential der heutigen Kultur in Deutschland hervorgebracht. Seit dem Ende des "real existierenden Sozialismus", das den universellen Triumph des Kapitalismus mit sich gebracht hat, tendieren ehemalige Kritiker des Bestehenden dazu, das Ja-Sagen zu betreiben, es triumphiert der "real existierende Opportunismus." Parallel zu ihm wächst ein militanter Nationalismus, der alle Deutschen in einem Boot sehen will, in dem für Ausländer kein Platz ist, und die Toleranz gegenüber Abweichungen aller Art ist bedroht.

Die Fremdenfeindlichkeit bringt symbolisch zum Ausdruck, wie es um die Beziehungen der Menschen zueinander in unserer Gesellschaft bestellt ist. Sie ist ein Symptom, in dem die Misere des bestehenden Sozialsystems zum Ausdruck kommt. Eine Kultur, die von einem entfesselten Kapitalismus geprägt ist, verstrickt Menschen ständig in feindliche Konkurrenzbeziehungen:  Mitmenschen werden in ihr häufig vor allem als Rivalen im Kampf ums Überleben erfahren. Der Hass auf die Ausländer wird meist damit begründet, dass sie die Arbeitsplätze, die Wohnungen und die Frauen wegnähmen. Sie haben den bedrohlichen Konkurrenten schlechthin zu repräsentieren: die Wut, die potentiell allen Menschen gilt, die zu Konkurrenten werden, wird an ihnen ausgelassen. Die westliche Form des Sozialen isoliert Menschen trotz wachsender wechselseitiger Abhängigkeit als Konkurrenten und Privateigentümer voneinander. Sie hat einen Individualismus begünstigt, der mancherlei subjektive Möglichkeiten hervorgebracht hat, sie lässt aber zugleich das soziale Wesen des Menschen verkümmern und verurteilt damit viele Menschen zu Isolierung und Einsamkeit. Gegen die Zerstörung des Sozialen in der Konkurrenzgesellschaft haben vor allem zwei politische Bewegungen Front gemacht: die nationalistische und die sozialistische. Der Sozialismus hatte in seiner ursprünglichen Konzeption das Ziel, die Entfremdung der Menschen voneinander in einer solidarischen Gesellschaft abzubauen und die Entfaltung der Einzelnen und die des Sozialen miteinander zu versöhnen. Durch die Niederlagen und Perversionen des Sozialismus hat der Nationalismus immer an Einfluss gewonnen. Der Begriff der Solidarität, einst ein Kampfbegriff der sich als international verstehenden Arbeiterbewegung, wird heute besonders in Verbindung mit dem Nationalen benutzt.

Menschen leben niemals nur in der Gegenwart. Die bestehende Gesellschaft legt ihren Mitgliedern massive Versagungen auf, die zu individuellen und kollektiven Wunschproduktionen führen, die das Bestehende übersteigen. Diese Wunschproduktionen können den Charakter von Wahnsystemen, von Illusionen oder von Utopien annehmen. Sie können vorwärts und rückwärts gerichtet sein. In diesen Wunschproduktionen steckt immer eine offene oder versteckte Kritik des Bestehenden, woran aufklärerisches Denken anknüpfen kann, das auf sinnvolle und notwendige soziale Veränderungen drängt. Wenn die linken Kräfte - oder die sozialen Bewegungen, die ihr Erbe antreten - keine intellektuell begründeten Alternativen zum Bestehenden anbieten können, in denen Platz für die Wünsche und Hoffnungen der Menschen ist, muss die Kritik am Bestehenden notwendig irrationale Ausdrucksformen annehmen. Wenn keine aufgeklärten gesellschaftlichen Alternativen präsentiert werden, mit denen sich Menschen identifizieren können, drohen kollektive Formen des Fundamentalismus, des Obskurantismus und Nationalismus. Die Linke hat die Aufgabe, über andere Formen des gesellschaftlichen Lebens nachzudenken und sie, soweit wie möglich, praktisch zu erproben. Wenn sie dazu nicht in der Lage ist, überlässt sie Bedürfnisse, die sich auf das Soziale richten, dem Nationalismus, der mit Hilfe von Außenfeinden die Menschen kollektiviert und ihre Sehnsucht nach mehr Gesellschaftlichkeit auf pervertierte Art aufnimmt. Gegen ihn helfen letztlich nur Beziehungen und Verhältnisse, in denen die sozialen Bedürfnisse der Menschen besser aufgehoben sind. Nur durch sie kann dem Nationalismus mit seinen wahnhaften Fiktionen sozialer Zusammengehörigkeit der Boden entzogen werden.

Die Angst vor dem Fremden ist heute nicht zuletzt eine Angst vor notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen, die die ängstigende Ablösung vom Bestehenden verlangen. Eine die Gegenwart beherrschende konservative Welle, die die bestehende westliche Welt als beste aller möglichen Welten ausgibt und die begriffslose Anpassung an geltende Regeln als illusionslose Nüchternheit ausgibt, lebt von der Angst vor der Offenheit gegenüber notwendigen sozialen Veränderungen. Wer Veränderungen zu sehr fürchtet, braucht Außenfeinde, die die Verteidigung des Status quo rechtfertigen. Wie viel Offenheit Menschen gegenüber dem Anderen, Neuen, Unbekannten aufweisen ist ein Index für ihre Emanzipiertheit. Die Angst vor Offenheit ist auch bei Linken anzutreffen, die dogmatisch an überkommene Politikmodelle fixiert sind. Wer über Alternativen zum Bestehenden Klarheit gewinnen will, muss heute neu und anders und unter Berücksichtigung veränderter historischer Erfahrungen über sie nachdenken. Wer die Angst vor dem Fremden ertragen will, muss sich selbst fremd werden können und Fremder in einer Welt sein können, in der niemand wirklich zu Hause sein kann. Die Demokratie kann nicht durch die Verteidigung des Bestehenden gerettet werden, sondern nur durch das Ringen um ihre Veränderung und Erweiterung.

Bremen, Dezember 1992