Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Für eine andere Hochschulreform

Vortrag gehalten 1995 an der Universität Bochum

Die Krise der bestehenden Universität besteht keineswegs bloß darin, daß für zu viele Studierende zu wenig Lehrende und zu wenig Geld vorhanden sind. Wo wird heute an der Universität noch gründlich darüber diskutiert, welchen Beitrag diese zu notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen leisten kann? Wo macht man sich Gedanken darüber, daß ein Studium etwas mit Bildung zu tun haben sollte, mit der selbsttätigen Hervorbringung von Subjekten, die ein freieres Verhältnis zur Welt und zu sich selbst haben? Wo erprobt man neuartige Arbeits- und Beziehungsformen, die mehr kritische Intellektualität freisetzen können? Wo beschäftigt man sich mit dem seelischen Elend, das die Arbeits- und Beziehungsformen an den Universitäten hervorbringen? Statt der dringend notwendigen Auseinandersetzung mit der existierenen Misere, flüchtet man sich an der Universität üblicherweise in eine leerlaufende, ritualisierte Betriebsamkeit, die nicht zuletzt der Abwehr des Nachdenkens über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu entspringen scheint. Insgeheim gilt wohl die Pararole: Wenn an der Universität schon viel Sinnloses gemacht werden muß, dann soll dies wenigstens ordentlich gemacht werden! Eine Hochschulöffentlichkeit, die es erlaubt, über dringend notwendige Perspektiven der Veränderung nachzudenken, ist kaum vorhanden.

Die Reformunfähigkeit der Universität begünstigt die staatliche Hochschulreform von oben. Die staatlichen Entscheidungsträger streben eine Beseitigung des bestehenden universitären Chaos an, aber die Maßnahmen, die sie vorsehen, werden nur neues Chaos produzieren, das wiederum neue administrative Eingriffe nach sich ziehen wird. Der Versuch, die Universität bloß mit administrativen Mitteln zu reformieren, wird ihr keine neuen, sinnvolleren Zukunftsperspektiven offenen. Er wird eher dazu beitragen, daß sich die Universität immer mehr in ein "Gehäuse der Hörigkeit" (Weber) verwandelt, aus dem die Fähigkeit zu kritischem Denken und selbsttätigem Handeln vertrieben ist. Die staatlichen Reformvorhaben, die auch von maßgebenden Kräften an der Universität unterstützt werden, zeigen die Tendenz, der Masse der Studierenden eine verschulte, zeitlich möglichst knapp begrenzte, berufsbezogene Ausbildung zu verordnen. Normierende Studienverlaufsmodelle sollen darauf drängen, daß Ausbildungsgänge schneller durchlaufen werden, die auf zukünftige berufliche Anforderungen ausgerichtet sein sollen. Die folgenden Ausführungen wollen Kritik an diesem Projekt üben und möchten auf Perspektiven für eine andere Hochschulreform hinweisen.

Von der Universität zur Berufsfachschule

Die angestrebten Reformen sehen für die Masse der Studierenden eine Ausbildung vor, die sie für Berufe qualifizieren soll. Es ist mehr als fraglich, ob sie dieser Intention gerecht werden. Vertreter der Wirtschaft betonen, daß nur Akademiker zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit des "Industriestandorts Deutschland" beitragen können, die sich durch Kreativität, Kooperationsbereitschaft oder die Fähigkeit zu immer neuem Lernen auszeichnen. Die veränderten Formen der Erwerbsarbeit von Akademikern verlangen die Qualifikation für die Arbeit in Teams, die sich flexibel veränderten Umständen anpassen können. Wo sich aufgrund ständiger wirtschaftlicher Wandlungen berufliche Anforderungen rasch verändern können oder der Wechsel des Berufs zur Überlebensnotwendigkeit werden kann, gewinnen solche "extrafunktionalen" Fähigkeiten immer mehr an Bedeutung. Nicht primär einige eng umgrenzte Qualifikationen sondern ein breiter gefächertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten wird von Hochschulabsolventen verlangt. Die verschulte Universität, die zur Berufsfachschule schrumpft, dürfte derartige Fertigkeiten kaum vermitteln. Ein offeneres Projektstudium würde sie viel eher hervorbringen. Die angestrebte Hochschulreform, die vielen linken Kritikern zufolge auf die Interessen der Wirtschaft ausgerichtet ist, dürfte kaum deren wirklichen Interessen dienen.

Man kann die Frage stellen, ob die angestrebte Reform ihrem Anspruch gerecht werden kann, mehr Studierende besser für zukünftige Berufe zu qualifizieren. Man kann darüber hinaus die Frage aufwerfen, ob der Anspruch richtig ist, die Universität als Ort der Berufsausbildung zu begreifen. Eine hochentwickelte Industriegesellschaft ist auf spezialisierte berufliche Kenntnisse angewiesen, die wissenschaftlich fundiert sein müssen und von Hochschulen zu vermitteln sind. Der Universität stellt sich notwendigerweise die Aufgabe, sich mit den zukünftigen beruflichen Anforderungen an ihre Absolventen gründlich auseinanderzusetzen. Wo sie sich aber darauf beschränkt, gibt sie den Anspruch der europäischen Aufklärung preis, welche Menschen durch das Erlernen des Vernunftgebrauchs in den Stand setzen will, sich um individuelle und kollektive Emanzipationsprozesse zu bemühen. Eine auf Berufspraxis ausgerichtete Wissenschaft fixiert ihr Erkenntnisinteresse einseitig auf Formen der Praxis, die sich warenförmig und marktkonform organisieren lassen. Sie orientiert sich simpel formuliert bloß an Formen der Praxis, mit deren Hilfe sich Geld verdienen läßt. Eine kritische Reformkonzeption hätte hingegen das Verhältnis von beruflicher Praxis und politischer Praxis zu analysieren und dem Politischen in Forschung und Lehre sein Eigengewicht zuzubilligen.

Wenn alle Menschen ihren Beruf ordentlich ausüben, muß keineswegs das für die Gesellschaft Sinnvolle und Notwendige herauskommen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Berufe hervorbringt, hat schon immer Verantwortungsbewußtsein im begrenzten Bereich des Berufs und Verantwortungslosigkeit in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze begünstigt. Eine gewissenhafte Berufsausübung von vielen und eine gesellschaftliche Entwicklung zum Wohl aller fallen keineswegs automatisch zusammen. Günter Anders hat am Beispiel des Faschismus und der Produktion von Massenvernichtungswaffen aufgezeigt, daß die "Summe der spezialisierten Gewissenhaftigkeit eine monströse Gewissenlosigkeit ergeben kann". (1) Berufe sind in der bestehenden Gesellschaft Teil eines Systems wirtschaftlicher Arbeitsteilung, das durch den Markt zusammengehalten wird. Der Markt verleiht einer kapitalistisch organisierten Ökonomie ihre Dynamik, er bringt aber auch fragwürdige soziale Kräfte hervor, die notwendige soziale Bindungen zerstören. Er zwingt die Menschen als einzelne in feindliche Konkurrenzbeziehung, die solidarischem Verhalten entgegenstehen. Firmen treten auf dem Markt mit ihren Arbeitskräften in Konkurrenz zu anderen Firmen und können es sich in diesem Kampf kaum leisten, das Wohl des gesellschaftlichen Ganzen angemessen im Auge zu behalten. Die individualistische oder betriebsbornierte private Interessenorientierung, die in Berufen verlangt wird, steht häufig kollektivem politischem Handeln entgegen, das die Gesellschaft für ihr Überleben braucht. Ein öffentliches gemeinsames Interesse an sozialer Gerechtigkeit, am Umweltschutz oder an sozialen und kulturellen Einrichtungen wird allzuleicht von privaten beruflichen Interessen erdrückt. Die ökologischen Katastrophen, die uns drohen, sind nicht zuletzt einer durch Berufsbindungen bewerkstelligten individualistischen Interessenorientierung zu verdanken, die der Vertretung von allgemeinen gesellschaftlichen Interessen entgegensteht. Wo nur von berufswegen gedacht und gehandelt wird, wird es in größerem Maße kaum zum Abbau von sozialer Gewalt, zu einem anderen Verhältnis der Geschlechter oder zu mehr Solidarität mit den sozial Schwachen kommen. Die bestehenden Strukturen des politischen Handelns scheinen heute kaum noch die notwendigen intellektuellen Kapazitäten hervorzubringen, die zur Lösung der anstehenden politischen Probleme notwendig sind. Diese Misere ist nicht zuletzt auch von einer Universität zu verantworten, an der viel zu wenig politische und soziale Phantasie erzeugt wird.

Berufe erlauben privilegierten Minderheiten sozial sinnvolle und notwendige Aktivitäten, die subjektiv als befriedigend erfahren werden. Man kann mit ihnen Geld verdienen, das vernünftig ausgegeben werden kann. Aber Berufe sind häufig auch Gefängnisse, in die Menschen ein Leben lang eingesperrt werden. Sie können Verhaltenskäfige darstellen, die der Entfaltung menschlicher Möglichkeiten entgegenstehen. Das kann man zum Beispiel schon bei Goethe, Hölderlin, bei romantischen Dichtern, beim jungen Marx oder bei Nietzsche nachlesen. In der gegenwärtigen Reformdebatte scheint man das vergessen zu haben. Jeder Beruf enthält neben der Möglichkeit, bestimmte Fähigkeiten entwickeln zu können, auch die subjektive Entfaltung auf oft schmerzliche Art blockierende Schranken. Soll sich die Universität diesen anpassen und die Beschränktheit lehren, ohne die kein existierender Beruf ausgeübt werden kann? Sollen Menschen nicht wenigstens an der Universität lernen dürfen, sie zu überschreiten. Die berufliche Praxis ist häufig mit seelischen und körperlichen Deformationen verbunden, die eine sinnvolle Lebenspraxis außerhalb des Berufs etwa im Familien- und Freizeitbereich sehr erschweren können und selbst die Ausübung des Berufs längerfristig in Frage zu stellen vermögen. Eine Universitätsausbildung, die Studierende bloß als potentielle Arbeitskräfte sieht und nicht auch als Subjekte, die innerhalb und außerhalb des Berufs nach Entfaltungs- und Glücksmöglichkeiten suchen, zeichnet sich durch Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal lebendiger Menschen aus. Vielen Studierenden droht die Arbeitslosigkeit oder sie werden nicht das Berufsziel erreichen, das ihnen vorschwebt. Eine einseitig berufsorientierte Ausbildung nimmt diesen Studierenden die Möglichkeit, an der Universität an Lebensentwürfen zu arbeiten, die nicht auf einen bestimmten Beruf fixiert sind. Die Lebenszeit, die im Beruf verbracht wird, ist in der Vergangenheit drastisch gesunken und sie wird weiter sinken. Man denke nur an die aktuelle Diskussion über die Vier-Tage-Woche. Damit öffnen sich Räume für Betätigungsmöglichkeiten außerhalb des Berufs. Soziales Engagement in Bürgerinitiativen, Vereinen oder politischen Parteien kann für immer mehr Menschen eine immer größere Bedeutung erlangen. Sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche oder technische Kenntnisse werden auch für solche Formen der Praxis immer bedeutsamer. Eine Universität, die bloß auf die Berufspraxis fixiert ist, verleugnet neue soziale Möglichkeiten, denen sie sich zu stellen hätte.

Curriculum macht alle dumm

Die Tendenz der staatlichen Reformvorhaben, die auch von starken universitären Kräften getragen wird, zielt auf eine stärkere Curricularisierung des Studiums. Die Masse der Studierenden soll inhaltlich und zeitlich reglementierte Studiengänge in möglichst wenig Semestern durchlaufen. Das Studium wird trotz widersprüchlicher Äußerungen der Kulturministerkonferenz oder der Rektorenkonferenz noch weiter verschult werden. Die herrschenden Reglementierer sind dem verfallen, was der lateinamerikanische Pädagoge Paulo Freire als "Bankiersmethode" bezeichnet. Sie wollen Studierende zu "Anlageobjekten" machen, in die sie nach einer bestimmten Systematik ihr Theorie- und Methodenwissen "investieren" können. Um zu überprüfen, ob die Anlageobjekte "rentabel" sind, müssen sie in regelmäßigen Abständen mit Hilfe von Prüfungen einer bilanzierenden Kontrolle unterworfen werden. Die curricularisierenden universitären "Bankiers", die meist glauben, das Banner der Demokratie über sich wehen zu sehen, haben bisher kaum angegeben, wie ihre "Anlageobjekte" zu Subjekten von eigenverantwortlichen Lernprozessen und damit zu Trägern von demokratischen Strukturen werden sollen. Selbsttätigkeit, produktives Tun und die Ausbildung von sozialer Phantasie fallen, wo die Curricularisierer unbeschränkt regieren, allzuleicht Einstellungen zum Opfer, die primär auf die brave Anpassung und das geistlose Pauken für Prüfungen hinzielen.

Die verregelte Ausbildung, die mit der Tendenz zum permanenten Prüfungsritual verkoppelt ist, erlaubt es nicht, soziale Beziehungen auszubilden, auf die ein befreiendes Lernen angewiesen ist. Sie hält die Studierenden als einzelne in unmündiger Abhängigkeit. Ohne daß das bewußt intendiert sein muß, wirkt die professorale Macht über Studierende hier nach der Maxime: Teile und herrsche. Das von oben verplante Studium sorgt dafür, daß studentische Lernprozesse sich fast nur an den Vorgaben der Lehrenden orientieren müssen und auf Prüfungen ausgerichtet sind. Den Studierenden wird dadurch der Raum genommen, gemeinsam selbständige Lernprozesse zu organisieren, in denen auch ihre Interessen aufgehoben sind. Die Verschulung der Ausbildung spaltet die Studierenden weitgehend nach Jahrgangsstufen auf; die rigide Trennung zwischen Grundstudium und Hauptstudium isoliert jüngere Semester von höheren Semestern. Daß Studierende verschiedener Semester etwas voneinander und nicht nur von besonderen Lehrkräften lernen, ist nicht vorgesehen. Wo zu viel geprüft wird, werden alle Studierenden durch eine von oben verordnete permanente Notenkonkurrenz in feindliche Rivalitätsbeziehungen getrieben. Die durch Studien- und Prüfungsordnungen hervorgebrachte Isolierung der Studierenden voneinander führt dazu, daß sie sich gegenüber der Macht der Professoren als ohnmächtig erfahren müssen. Die permanente Erfahrung des Ausgeliefertseins begünstigt die Angst vor der Freiheit, die die in Unselbständigkeit Gehaltenen nach klaren Vorgaben von oben, anstatt nach offeneren Strukturen rufen läßt. Die bürokratisch aufgezwungene Aufspaltung und Isolierung der Studierenden blockiert die Entstehung von studentischer Öffentlichkeit, in der Alternativen zum Bestehenden entwickelt werden können. Die Verkümmerung der studentischen Hochschulpolitik, die Professoren gerne herablassend und begriffslos einer studentischen Unfähigkeit zuschreiben, ist nicht zuletzt Ausdruck der Strukturen, für die sie Verantwortung tragen.

Eine an der Universität institutionalisierte Kontrollwut erschwert nicht nur ein sinnvolles Zusammenwirken, sie erschwert auch die produktive Austragung von Konflikten. Kritisches Denken erlernt man nicht, indem man nachplappert, was Prüfungsberechtigte vortragen, auch wenn dessen Inhalt noch so kritisch sein mag: Kritisches Denken ist an die konflikthafte Auseinandersetzung mit der Autorität gebunden. Nur Studierende, die versuchen, die Position der Lehrenden offen in Frage zu stellen, können sich von Autoritätsfixierungen lösen und damit freier denken. Nur wo die Kritik an der Autorität gelernt werden kann, wo der Streit, der sich intellektueller Mittel bedient, nicht als Störung, sondern als etwas Positives angesehen wird, sind ins Freiere führende Lernprozesse möglich. Eine lebendige Universität ist nicht auf eine "ordentliche Betriebsamkeit", sondern auf eine entwickelte Streitkultur angewiesen.

Dimensionen einer anderen Hochschulreform

Perspektiven einer anderen, durchdachteren Universitätsreform lassen sich nicht in wenigen Sätzen darstellen. Sie lassen sich nicht von Einzelnen, sondern nur von diskutierenden Gruppen entwickeln. Sie verlangen zum Beispiel die Analyse der politischen und ökonomischen Abhängigkeiten der Universität oder die Analyse der Interessen und Wünsche von Hochschulangehörigen, die auf Veränderung drängen könnten. Ich muß mich im Rahmen dieses Textes auf einige allgemeine Hinweise beschränken, die eher sozialpsychologisch und bildungstheoretisch ausgerichtet sind.

1.- Die bestehende westliche Kultur ist von einer ritualisierten Wut des Machens beherrscht. In einer kapitalisch organisierten Arbeitsgesellschaft soll ständig etwas getan werden. Von der Wissenschaft wird verlangt, daß sie die bestehende gesellschaftliche Praxis rationalisieren hilft oder andere Formen der Praxis mit vorbereitet. Es sollte aber für ein kritisches theoretisches Denken nicht bloß darum gehen herauszufinden, was zu tun ist, was durch welche Praxis verändert werden kann. Es ist heute mindestens genauso wichtig, gründlich darüber nachzudenken, welche Arten der Praxis unterlassen werden sollten. Die Welt wäre um vieles besser, wenn sich die Menschen endlich für viele Aktivitäten zu schade wären. Eine bessere Gesellschaft als die unsere wäre nicht nur auf die Freisetzung sinnvoller Aktivitäten, sondern auch auf mehr Ruhe, Muße, Gelassenheit und Friede angewiesen. Der Natur würde es zum Beispiel sehr gut tun, wenn sie von vielen menschlichen Aktivitäten endlich verschont würde. Auch die Krise der Universität besteht keineswegs darin, daß an ihr zu wenig gearbeitet wird, sie besteht vor allem darin, daß an ihr zu viel Überflüssiges getan werden muß. Es gibt zu viel Betriebsamkeit, die das konzentrierte Nachdenken, das Lesen oder das gründliche Diskutieren sabotiert. Die permanente Beschleunigung nahezu aller Aktivitäten steht einer Zeitstruktur entgegen, die erlaubt, daß das Denken und Handeln einen Zeitrhythmus finden, den sie brauchen, um zu reifen. Unsinnige Wochenstundenzahlen, die durch Studienordnungen festgelegt sind, zu viele Prüfungen, zu viele Gutachten, zu viele Anträge, zu viele Sitzungen, in denen nicht über das geredet wird, was beredet werden müßte, sorgen dafür, daß man von sinnvollen Aktivitäten abgelenkt wird. Die "ritualisierte Wut des Machens entspingt nicht nur äußeren institutionellen Zwängen, die mit staatlichen oder wirtschaftlichen Anforderungen an die Universität zu tun haben, sie hat auch mit kollektivierten seelischen Deformationen zu tun, die der Abwehr von Ängsten dienen. Viele stürzen sich in eine hektische Betriebsamkeit aus Angst vor dem Nachdenken über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns oder aus Angst vor einem Mangel an wirklicher intellektueller Produktivität. Man bastelt an allzu viel Reglementierungen, auch weil man zu viel Angst davor hat, sich offen, ohne bürokratische Reglementierungen mit Kollegen oder Studierenden auseinanderzusetzen. Gegen allzuviel des Tuns, das durch äußere und innere Zwänge hervorgebracht wird, muß eine sinnvolle Hochschulreform auf ein Lob des Nichtstuns setzen.

2.- Vor 200 Jahren gab es in Deutschland eine große Hochschulreform. Der preußische Kultusminister Wilhelm von Humboldt formulierte damals in einer Denkschrift über die Organisation der Universität eine zentrale Maxime für jede sinnvolle Hochschulreform. Nach dieser gilt: ".. .daß bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten alles darauf beruht, das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen" . (2) Das war damals so richtig, wie es heute richtig ist. Es gibt keine sinnvolle Wissenschaftsentwicklung ohne das, was man früher als "akademische Freiheit" von Lehrenden und Lernenden bezeichnet hat. Dieser Begriff hat eine deutsche Universitätsgeschichte, die nicht nur problematische Seiten hat, sondern auch zu großen wissenschaftlichen Leistungen geführt hat, 150 Jahre entscheidend mitbestimmt. Daß dieser Begriff aus den aktuellen Reformdiskussionen nahezu verschwunden ist, ist Ausdruck der Misere der bestehenden Universität. Eine Universität braucht Räume für offene intellektuelle Suchbewegungen, Räume für die Entwicklung von Beziehungen der Hochschulangehörigen, Räume für selbstorganisiertes studentisches Lernen, Räume für das Experimentieren mit neuen Formen des Lernens. Die Emanzipiertheit von Menschen bestimmt sich nicht zuletzt am Maß der Offenheit ihres Denkens und Handelns. Es gilt an der Universität Räume zu entwickeln, in denen diese Offenheit gelernt werden kann.

3.- An der Universität wird viel geredet, aber allzu vieles findet dort nicht seinen angemessenen Ausdruck. Es gibt bei fast allen Universitätsangehörigen ein sehr verbreitetes Unbehagen am aktuellen Zustand der Universität, kaum jemand ist mit der bestehenden Situation zufrieden. Warum findet das Leiden am Bestehenden nicht seine angemessene Sprache in Formen der Hochschulöffentlichkeit? Warum findet es nicht seinen intellektuellen, politischen oder auch ästhetischen Ausdruck? Michel Foucault hat aufgezeigt, daß gesellschaftliche Macht, also auch Macht an der Universität, mit herrschenden Ordnungen des Diskurses verknüpft ist. Diese Ordnungen legen zum Beispiel fest, was an der Universität diskutiert werden soll und was nicht diskutiert werden soll. Sie legen fest, wer etwas zu sagen hat und wer nichts zu sagen hat. Sie normieren, auf welche Art etwas zum Ausdruck gebracht werden darf und auf welche Art es nicht zum Ausdruck gebracht werden darf. Universitäre Diskursregeln fungieren als Ausschluß- und Einschlußregeln. Sie organisieren, kontrollieren oder homogenisieren intellektuelle Äußerungsformen. Es gibt vor allem zwei Bereiche, in denen die Raster der Diskursregeln an der Universität eng werden: den Bereich des politischen und den Bereich des Begehrens, des Wünschens, den Bereich erotischer Spannungen, die das Denken aufladen könnten. Wer eine andere Universität anstreben will, die mehr Raum für menschliche Möglichkeiten zuläßt, muß den Mut aufbringen, die geltenden Regeln wissenschaftlicher Diskurse zu durchbrechen. Es geht darum, Felder des Sprechens zu eröffnen, in denen das ausgesprochen werden kann, was die herrschenden Ordnungen des Diskurses nicht tolerieren wollen. Das Ringen um eine bessere Universität hat mit dem Ringen um Hochschulöffentlichkeit, um Orte des Sprechens zu tun, an denen die Inhalte, über die endlich gesprochen werden müßte und die Interessen und Wünsche aller Universitätsangehöriger besser zu Wort kommen.

4.- In die große bürgerliche Universitätsdebatte vor 200 Jahren brachte der Pädagoge Schleiermacher die wichtige Frage ein, ob man die Gegenwart, den Augenblick an der Universität der Zukunft dadurch opfern soll, daß man das Studium nur im Hinblick auf zukünftige berufliche Anforderungen hin organisiert. Dann wäre das gegenwärtige Tun, in der aktuellen Entwicklungsphase, nur eine Vorstufe für eine zukünftige Form gesellschaftlicher Praxis. Für Schleiermacher ist das inhuman, weil jeder Lebensabschnitt auch in sich seine Erfüllung finden soll. "Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben." (3) Tut sie das nicht, macht das nicht gelebte Leben dumm und staut sich als Totes so auf, daß es die Zukunft verdirbt. Bezogen auf Bildungsprozesse stellt sich somit die Frage, wie der Anspruch auf eine erfüllte Gegenwart mit zukünftigen Anforderungen, etwa im Beruf oder im Bereich der Politik, verknüpft werden kann. Eine sinnvolle Bildungskonzeption muß das Spannungsverhältnis zwischen dem Lebensrecht der Gegenwart und zukünftigen sozialen Anforderungen produktiv bewältigen.

Studierende bringen an der Universität einen wichtigen Teil ihrer Lebenszeit zu. Viele von ihnen lösen sich mit dem Beginn ihres Studiums vom Elternhaus, indem sie in eine Stadt ziehen, die nicht ihr Heimatort ist. Damit können sie neue Freiheiten und neue Lebensperspektiven gewinnen. Sie lernen an der Universität andere Menschen kennen als bisher, sie werden mit anderen Denkfiguren vertraut und werden vielleicht politisch aktiv. Trotz aller Beschränkungen gewährt die Studienzeit üblicherweise mehr Freiheiten als die Schulzeit und die spätere Zeit im Beruf. Damit ist potentiell die Chance gegeben, mit sich und seinen Möglichkeiten zu experimentieren. Man kann dabei lernen, Spielräume zu nutzen und Grenzen zu verschieben oder sie wenigstens anders zu erfahren. Die Studienzeit sollte von Studierenden nicht nur als Vorbereitungszeit für ein späteres Berufsleben verstanden werden: Sie ist Lebenszeit. Nicht nur, was während der Studienzeit theoretisch gelernt wird, sondern vor allem das, was während dieser Zeit arbeitend, kämpfend und liebend gelebt wird, erzeugt einen Reichtum der Subjektivität, ohne den ein befreiendes Denken und Handeln keine Basis hat. Eine Gesellschaft, die ihrer Jugend keine Zeit des Experimentierens gönnen will, wird dafür teuer bezahlen.

5.- An den Rändern unserer Gesellschaft wird zunehmend ein totalitäres Potential sichtbar. Aber ein antidemokratisches Potential kann nicht nur in gesellschaftlichen Randbereichen, sondern auch in zentralen gesellschaftlichen Einrichtungen, wie der Universität, erzeugt werden. Wenn Menschen in universitären Lernprozessen ihre Subjektivität nicht angemessen zur Geltung bringen können, wenn sie sie dort nicht mit Hilfe einer kritischen Intellektualität zu bearbeiten lernen, kann die verdrängte Subjektivität in totalitären Bewegungen als Fratze wiederkehren. Die Wissenschaft wird heute von immer mehr Studierenden primär als Macht- und Disziplinierungsinstrument erfahren, dem man sich unterwerfen muß, um bestimmte gesellschaftliche Positionen zu erlangen. Immer mehr Studierende erfahren an der Universität Intellektualität kaum noch als etwas, das den Zugang zur Welt und zu sich selbst auf lebendige Art bereichern kann. Das führt zu antiintellektuellen Einstellungen, die dem Denken zurechnen, was bloß seiner deformierten Gestalt an der Universität entspricht. Wo diese antiintellektuellen Einstellungen von Menschen, die sich sozial deklassiert fühlen, mit aus Verzweiflung resultierender Wut aufgeladen werden, ist die Demokratie gefährdet. Eine Universität, die keine Räume für Selbsttätigkeit und demokratisches Engagement von Studierenden offenläßt, untergräbt die Demokratie. Wer Studierenden sein Denken aufherrschen will, anstatt die Erfahrung zu vermitteln, daß Denken eine befreiende und lustvolle Tätigkeit sein kann, die es erlaubt, sich dem sozialen Engagement zu öffnen, arbeitet ihr entgegen. Die Demokratie kann gegen ihre Feinde keineswegs nur durch die Verteidigung des Bestehenden gerettet werden. Sie lebt vom Ringen um ihre ständige Veränderung und Erweiterung. Sie ist an der Universität und anderswo vor allem eine noch vor uns liegende Aufgabe.


Anmerkungen

  1. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I. München 1980, S. 247
  2. W. v. Humboldt: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten zu Berlin. In: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Stuttgart 1964, S 257
  3. F. Schleiermacher: Zur Pädagogik. Werke III. Aalen 1967, S. 425