Prof. Dr. Gerhard Vinnai

Universität Bremen

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Das Elend der Männlichkeit - Heterosexualität, Homosexualität und ökonomische Struktur

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1977, 260 Seiten TB, 880-ISBN 3 49917076 0, -antiquarisch erhältlich-
elend

Klappentext

Psychische Strukturen und Handlungsmuster von Menschen sind das Resultat sozialer Prozesse, in die diese verstrickt sind. Diese Abhängigkeit kann an etwas aufgezeigt werden, was scheinbar nur der Natur gehorcht: am sexuellen Verhalten. Die Misere der männlichen Sexualität, die die Frauen auf schmerzliche Art zu spüren bekommen, ist nicht - wie Teile der Frauenbewegung meinen - Ausdruck patriarchalischer Willkür, sie ist Ausdruck sozialer Verhältnisse, die die Männer (und Frauen) in Unfreiheit halten. Fragwürdige sexuelle Verhaltensweisen können zurückverfolgt werden auf ökonomische Strukturen, die der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken.

Der Versuch einer Psychologie der männlichen Sexualität wäre allerdings zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht die Analyse ihrer abgespaltenen, verdrängten homosexuellen Anteile einbezieht: Ohne das Begreifen der Homosexualität, die an ihr teilhat, bliebe die Heterosexualität unbegriffen. Dies Buch will daher die Bedeutung der offenen und versteckten Homosexualität für das männliche Verhalten herausarbeiten. Darüber hinausgehend versucht es, psychoanalytische Befunde über Hetero- und Homosexualität einzugliedern in Vorüberlegungen zu einer materialistischen Psychologie. Die Analyse des Elends der Männlichkeit soll in der Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse ihre Nützlichkeit auf die Probe stellen.

Inhalt

  • Vorwort 9
  • I
    • Psychologische Aspekte der Männlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft - Heterosexualität, Homosexualität und ökonomische Struktur 10
    • Vorbemerkungen 10
    • Kritik der männlichen Psyche als Kritik ihrer verdrängten Anteile 15
    • Liebesfähigkeit - Liebesunfähigkeit 18
    • Psychoanalyse der Homosexualität 28
    • Homosexualität, Fetischismus und Heterosexualität 46
    • Psychische Konstitution und ökonomische Zwänge 60
    • Kindliche Prägung und Erwachsenensexualität 74
    • Mutter-Kind-Beziehung und Geschlechterverhältnis 82
    • Verdrängte Homosexualität, Gewalt und Leistungskonkurrenz 96
    • Aspekte der genitalen Sexualität 108
    • Der Homosexuelle als der Gleiche und der andere 132
    • Homosexualität, Heterosexualität und bürgerliche Vernunft 144
    • Zum Schicksal der Männlichkeit 156
  • II
    • Vorüberlegungen zu einer materialistischen Psychologie 159
    • Zur Kritik der positivistischen Psychologie 159
      1. Subjektive Erfahrung und Theoriebildung 159
      2. Psychologie und Kritik der politischen Ökonomie 166
    • Zum Verhältnis von Pathologie und Normalität 173
    • Die politökonomischen Determinanten der Familie und die Psychoanalyse als Theorie der familialen Sozialisation 192
    • Zum Elend der linken Psychologiefeindschaft 229
  • III
    • Zur Konstitution proletarischer Subjektivität 239

Vorwort

Die Versuche der Verknüpfung von Psychoanalyse und materialistischer Gesellschaftstheorie sind bisher zumeist über vage programmatische Erklärungen nicht hinausgelangt. Um sich der schonungslosen Kritik im Wissenschaftsbetrieb möglichst weitgehend zu entziehen, kann man in abstrakte Bestimmungen flüchten, die dieser gegenüber relativ immun sind. Wer mit Hilfe der materialen Analyse die konkrete Vermittlung von psychischen Dispositionen und Gesellschaftsstrukturen aufzuzeigen sich bemüht, ist der Kritik gegenüber ungleich anfälliger, zumal er, vor allem beim derzeitigen Stand der Theoriebildung, den Mut zur Spekulation, zu ungeschützten Gedanken aufbringen muss.

Die Untersuchung des Elends der Männlichkeit versucht die Vermittlung von Psychoanalyse und materialistischer Gesellschaftstheorie mit Hilfe der Realanalyse voranzutreiben. Sie versucht die psychoanalytischen Befunde über männliches Sexualverhalten im Horizont der marxistischen Kritik kapitalistischer Verhältnisse umzuinterpretieren. Ihr Bemühen zielt darauf, aufzuzeigen, welche Rolle der spezifischen Zurichtung der Sexualität, die die Psychoanalyse thematisiert, bei der Reproduktion bestehender Produktions- und Herrschaftsverhältnisse zukommt.

Die materialistische Psychologie des Geschlechterverhältnisses, um die sich das Buch bemüht, ist auf weiterreichende Vorüberlegungen zu einer materialistischen Psychologie angewiesen, die der zweite Teil des Buches liefert. Der dritte Teil, der Überlegungen zur psychischen Verfasstheit von Arbeitern enthält, kann, ebenso wie die Untersuchung der Männlichkeit, als Versuch verstanden werden, den Interpretationsansatz, den der zweite Teil liefert, mit Hilfe der materialen Analyse einer Überprüfung zu unterziehen. Es kann deshalb sinnvoll sein, den zweiten Teil des Buches vor dem ersten zu lesen. Einige allgemeine Bestimmungen, die der zweite Teil enthält, tauchen im ersten und dritten Teil, auf deren Untersuchungsgegenstände bezogen, wieder auf; bestimmte Wiederholungen sind deshalb nicht zu vermeiden.

Der Text ist mitunter «schwierig», man sollte das dem Autor nur vorwerfen, wenn er Sachverhalte komplizierter darstellt, als sie sind. Komplexe Sachverhalte verlangen die «schwierige» Analyse. Wer nicht das ganze Buch lesen kann oder will, kann einzelne Abschnitte herausgreifen, Zwischenüberschriften sind deshalb eingefügt.

Der Autor bekennt sich dazu, dass seine Ausführungen mitunter recht essayistisch oder auch literarisch ausfallen. Wer glaubt, dass die erstarrten Interpretationsweisen und die ritualisierten Sprachmuster des Universitätsbetriebs «wissenschaftlicher» sind, sollte sich überlegen, ob sie dieses Etikett einem angemesseneren Bezug auf ihre Forschungsgegenstände verdanken.